Klemperer, Viktor
jeder Türgriff, Wasserleitung, Clo nach jeder Berührung desinficiert werden usw. Besonders die Küche sei Gefahrenort – es liege irgendeine schwere Infektion vor. Noch einen zweiten Todesfall – ich hoffe noch immer, daß er nicht eintritt – nehme ich nicht auf mein ärztliches Gewissen; mache ich aber Anzeige, u. ein arischer Arzt sieht die hiesigen Zustände, dann evakuiert man Sie irgendwohin, u. ich weiß nicht, wohin man Sie stopft! Ich erwiderte, die geforderten Maßregeln ließen sich nur scheinhaft durchführen. Tatsächlich ist seitdem, während ich in der Küche an der Wasserleitung hantierte, zu dutzenden Malen von verdächtiger Hand dazwischen an Hahn u. Ausguß gefahren worden, sitzt mir eben jetzt – wie sollten wir s der * Mutter abschlagen? – Bernhard der zu isolierende mit einem Buch an unserm Eßtisch. Etc. etc. In dieser Enge der drei Parteien läßt sich die Gefahr auf keine Weise vermeiden, es herrscht notgedrungene Promiscuität, man ist absolut in Schicksals Hand. Was habe ich am meisten zu fürchten. Ich neige nicht zu Halssachen, habe aber noch meine Mandeln. * E. hat keine Mandeln mehr, neigt aber zu Halssachen. Ich hätte einen Arzt, aber mein Herz ist in schlechtem Zustand, u. ich möchte E. nicht zur Last fallen. Für E. widerum wäre kein Arzt u. keine Pflege da. Und was wird aus uns im Fall der Evakuation? Sorge über Sorge.
Da hinein, kaum daß * Katz aus dem Haus war, fiel ein Alarm, ½ 1–½ 2, sehr rasch großer u. bedrohliche Nachricht, Bombengeschwader im Anflug, Angriff auf Dresden möglich. Man hörte surren, hörte in sehr weiter Ferne viel schießen, aber sonst geschah nichts. Ich besprach inzwischen die böse * Stühlersache mit * Neumark. Er wollte seinerseits mit Katz überlegen, ob man etwa uns u. * Frau Cohn für die kritische Zeit von hier weg in ein Notquartier lege. Wir erwarten nun den Abendbesuch des Doctors. So ist sind im Augenblick die üblichen zwei Gefahrenquellen: Gestapo und Flieger um eine dritte u. vielleicht, wahrscheinlich sogar, scheußlichere vermehrt.Wirklich: alles nimmt jetzt die Wendung ins Kulturhistorische u. Gräßliche; hinter dem Einzelfall Stühler erscheint ein neuer apokalyptischer Reiter. |¯ s. Zusatz vom 3. XII 44 über zweiten Alarm.
Freitag 1. Dezember 44 Vorm.
* Stühler ist heute Nacht gestorben – man kann das Gruseln lernen. Ich will aber wieder, u. was auch kommen mag, bis zuletzt ganz kalt berichten. – Gestern Abend [Gestrichenes nicht lesbar] vor de kam * Katz, ich erwartete, er würde in der Sterilisierungsfrage ausführlich mit uns sprechen. Als er aber gegen ¾ 8 drüben fertig war, gab es Alarm, den zweiten an diesem Tage. (Er wurde um ½ 9 abgeblasen, ohne daß wir in den Keller mußten.) Katz eilte fort u. sagte mir – absoluter Stimmungsumschlag! * Felix redivivus! – wir sollten für unsere Person nicht übermäßig ängstlich sein. Stühler selbst freilich, dem er Kampher injiciert hatte, sei noch längst nicht über den Berg. Gegen 10 h Abends mußte * Frau St. zur Apotheke, inzwischen hatte ich aufzupassen. Ich hörte im Krankenzimmer den Lichtschalter knipsen u. Schritte; als ich zur Thür kam, lag St. schon wieder, aber sehr unruhig u. schwer athmend. Ich fragte, ob er trinken wolle. – Ja. – Er richtete sich auf, ich stützte erst das Kissen, dann unmittelbar seinen schweißnassen Kopf, gab ihm ein bißchen Fachinger. Er war furchtbar abgemagert, hatte starre Augen, rauhe, mühselige Stimme, sprach aber völlig klar. Wo seine Frau sei, wann sie wiederkome, dankte mir wiederholt. Ich wusch Hand u. Ärmel in dem Lysolersatz, das * E. schließlich aufgetrieben, legte mich um ½ 11 schlafen. Um ½ 2 weckte uns Frau St.: sie höre keinen Athem, fühle keinen Puls. St. lag mit offenen, aber nicht gebrochenen Augen auf dem Rücken, das Gesicht schmal u. starr – nicht eigentlich friedlich, aber auch nicht leidend, nur kalt u. abweisend. Offenbar tot, aber ich hatte keine Sicherheit dafür. Wir klopften bei * Frau Cohn, sie erschien einen Schlafrock auf der Diele über das Nachthemd werfend, u. nun ereignete sich etwas allzu menschlich u. psychoanalytisch Merkwürdiges. Mit einem solchen Eifer – (ich kann das, habe Erfahrung!) –, mit einer geradezu freudigen Geschäftigkeit – (also geht es auch anderen so, hat der Meinige Begleitung!) – constatierte sie erst durch ein salbungsvolles Er ist hinüber den Tod, ließ keinen Zweifel gelten, da sie Erfahrung habe, und machte sich dann mit
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