Klemperer, Viktor
sittliche Ordnung. Ablehnung der Kriegsschuldidee. Nur der heute (1919) herrschende Pöbel kann von Schuld am Krieg, von Volksbetrug u. Ähnlichem sprechen 206 (also etwa von Judenschuld, * Rathenau etc)
3) Der Ausschlachtbare . * P. E. ist kein Politiker oder doch nur ein negativer. Der Utilitarismus, die Selbstsucht usw tun es nicht. Eine sittliche Idee , eine Religion muß da sein, eine von Gottes Gnaden muß nicht eine Klasse, einen Stand, sondern eine Gesamtheit hinter sich haben, er muß ihr nicht bloß ein Interesse befriedigen, sie muß an seine göttliche Sendung glauben. Die Sätze vom Mietling der bloß seine Pflicht tut u. nicht genügt 171; das Volk will einen Mann auf dem Thron haben, an den es als einen Gottesträger glauben kann 140; Arbeit muß wieder seelenvoll werden 219; Deutschlands Seele ist die Rechtfertigung für das Bestehen von Europa; Europa mußte zugrunde gehen, wenn die deutsche Seele nicht wieder erwachte. Vielleicht ist dieser Krieg geschickt, um sie wieder zu erreichen, das wäre seine Rechtfertigung. 1918 geschrieben 234 Das läßt sich auf * Hitler u. sein Programprophetisch deuten. Aber P. E. lehnt durchaus den Fanatiker, den Bloßnationalisten u. den Massenredner u. Agitator ab!
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Von E s Dichtung las ich bisher nur etwa ½ Dz seiner Spitzbubengeschichten. Sehr bald langweilig. Ganz entfernt an die * Contes Drôlatiques erinnernd. 1 Bei E. ist das Vorbild der Novellino, die anekdotische Urnovelle. Seine Gauner machen allzu bequeme u. untiefe Gaunereien. Man ist ihnen nicht böse, aber es bleibt immer beim flachsten Betrug, alle Tiefe, alles Complexe, alles Zeitcolorit fehlt; man hat nichts als die nackte Gaunerei, der Witz ist bald erschöpft. Alles bleibt kleinlich: die Schuld, die Gutmütigkeit, das Vergehen u. die Sühne – dazu noch als Kriminalfall plump u. oft unwahrscheinlich.
S 259, 262 Über Redekunst, Kunst der Massenleitung: englisch, französisch – undeutsch, des Deutschen unwürdig!! Absolut antihitlerisch. Wir werden nie solche Redner werden!!
Donnerstag 30. Nov. 44. Spätnachmittag .
Erst jetzt, nach 18 h., habe ich die fragwürdige * Ernstnotiz – * Dostojewski aussparend – zuende gebracht. Gestern Vorm. holte ich wieder 2 Ctr Kohlen heran; das ermüdet nicht nur sehr, sondern lähmt auch nachwirkend die Schreibhand. Ich war danach im Wesentlichen auf Lektüre ( * Dostojewski-Monographie, 1 Provenienz * Lewinsky u. * Stefan Zweig, 2 Provenienz * Steinitz) beschränkt, suchte auch in einmal wöchentlich üblicher Weise Steinitz auf.
Vor allem aber wirkte u. wirkt der Fall * Stühler in immer stärkeren Maße ablenkend u. bedrückend. Der Mann liegt bei wechselnder Hoffnungsskala der * Frau u. des * Arztes auf den Tod u. liegt geheimnisvoll. Katz hat gestern, den Widerstand der Gestapo niederkämpfend[,] einen Halsspezialisten consultiert: die Angina ist abgeklungen, die rätselhafte Sepsis geblieben: der zweite Fall im Hause. Der dritte, wenn man die Erkrankung der Schwägerin der * Frau C. hinzurechnet, ein vierter befindet sich in Katz Händen anderwärts. Also Seuchenverdacht. Aber das Gesundheitsamt gibt nichts bekannt. Wer den Verdacht ausspräche, wäre Defaitist. Auch ist es jetzt, wo Tod an der Front u. über den Städten wütet, einerlei ob noch ein apokalyptischer Reiter zu den anderen stößt. Auch fehlt es an Ärzten, Platz in Krankenhäusern u. Arzneien. ( * Eva heute in der großen Mohrenapotheke. Sie bäte um eine Desinfektionsseife oder um Lysol oder Ähnliches. – Gibt es nicht, jetzt im sechsten Kriegsjahr. – Sie: Aber Infektionskrankheiten gibt es. – Ich: Das hätte dich Gefängnis kosten können.) Katz gestern Abend zu mir: die Frau sei verzweifelt, sie glaube nicht daß der Mann die Nacht überlebe – * Felixartig 3 : hoffentlich behält sie nicht recht. Er selber, Katz, habe ein gutes Gewissen – ich prägte für mich Fallgewissen –, bei Stühler sei alles getan worden, bei Cohn hätte manches anders sein können. Auch wolle er feststellen, was es denn mit der etwaigen Epidemie in Dresden auf sich habe. – Wir fanden Frau Stühler, die sonst so energische, in Thränen, in besonderer Sorge um Bernhard. Wir versprachen ihr, den Jungen in unser Schlafzimmer zu quartieren u. selber hier vorn zu schlafen. Dies sollte heute bewerkstelligt werden. Inzwischen schlug bei Katz die Stimmung um. Er machte heute Mittag gewissermaßen mich für die Hygiene der Etage verantwortlich; * Bernhard St. müsse isoliert,
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