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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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auch das Leichengefolge so klein. Aber Jakoby predigte dawke. 3 Am Schluß gab es das Kaddischgebet. 4 * Jakoby trug es mit großer Betonung vor. Aber hätte er es übersetzen können? Und wer von den Anwesenden verstand es? * Bernhard St. mußte mit in Jakobys Buch sehen u. verstand doch kein Wort u. keinen Buchstaben. –
     

 
    Montag Vorm 11. Dezember 44 .
     
    * Bertholds Geburtstag. 5 Er wäre jetzt 73, er ist 14 Jahre tot, mit 59 . Die Zuneigung u. der Kampf zwischen uns hat so viele Jahre ausgefüllt – was blieb davon, was ahnen im entferntesten davon – davon u. vom Leben u. Denken ihres Vaters überhaupt – seine * * Söhne, wieweit mag auch nur seine * Frau in sein wirkliches Esse 6 eingedrungen sein? Er wollte ja doch vor ihr, vor sich zeitlebens krampfhaft ein anderer sein, als er wirklich war. Vielleicht wollen wir Juden immer etwas anderes sein – die einen Zionisten[,] die anderen Deutsche. Aber was sind wir wirklich? Ich weiß es nicht. Und auch das ist eine Frage, auf die ich nie Antwort bekommen werde. Und das ist meine größte, meine berufliche Furcht vor dem Tode: daß er mir aller Wahrscheinlichkeit alle Antworten schuldig bleiben wird.
    * Willy Seidel: Der neue Daniel. Ausschnitt aus dem Dasein eines Deutschen. Geschrieben im Herbst 1920 München. Volksverband der Bücherfreunde 1921.
    1) freier Excurs zur Rasse, da S. immerfort, ohne den Begriff zu praecisieren, von den Ideen der Rasse u. Rassereinheit verfolgt ist. (s.u. im Einzelnen) Germanische (nordische) Völker haben zoologische Grundtendenz (Stamm, Volk, Rasse) – romanische : spirituelle : Katholizität, Menschheit aller Farben, Staat, Imperium aller Farben, Stämme etc, geistig zusamengefaßte u. geordnete Gruppen. An alle wendet sich die Kirche, das Christentum. Seine religiösen Grundgedanken stamen aus dem Judentum. Das hat einen höchst spirituellen Gott, aber im Anfang doch auch nur ein Stamesgott, der für sein auserwähltes Volk, u. nicht für die Menschheit da ist. Wo komt die Ausdehnung auf die Gesamtheit, das an Alle des Evangeliums her? Aus dem Griechentum bestimmt nicht. Das ist durchaus exclusiv. Der nichtgriechische Menschenrest, d.h. die eigentliche Menschheitsmasse neben der kleinen Griechengruppe, das alles sind die barbaroi. 1 Der Gedanke des alle umspannenden Vaterunser scheint mir die Originalität, das eigentlich Neue des jüdischen Individuums Jesus auszumachen. Wo hat er diesen Gedanken her? Er liegt, wie jeder neue Gedanke in der Luft, die Zeit dieses Gedankens []ist erfüllet, das Imperium Romanum ist kein Stadtstaat mehr, keine in sich geschlossene italienische Angelegenheit, vielmehr eine Ordnung der gesamten damaligen Kulturwelt. In dem jüdischen, also spirituell veranlagten Kopf des Erlösers wird geistig erfaßt, was bereits vorhanden ist, die Menschheit. Als Nachfolgerin des staatlichen Rom kennt die katholische Kirche mit Selbstverständlichkeit nur die Ordnung der gesamten Menschheit, als Nachfolgerin oder Concurrentin oder Mitinhaberin der Firma kennt das römische Reich deutscher Nation nur die Menschheit, nicht den Stam, das Volk. Man kann nicht sagen: im Anfang waren die Juden (oder die Römer) genauso stambeschränkt in ihrem Denken wie die Germanen. Es komt auf die Weiterentwicklung zur Reife an. Die germanische Entwicklung geht vom Stamzum wissenschaftlichen, naturwiss.u. pseudowiss., Rassegedanken, religiös zum germanischen Christus. Das jüdische Denken, schon im Keim spirituell – Du sollst Dir kein Bild machen! – führt zu m Menschheitsgedanken, zum Gott für alle. Es führt zum Denken schlechthin, * Spinozismus ist mathematische Religion. – Spinozismus wird erst in deutscher Umbildung pantheistische Naturschwärmerei, gerät auf solche Weise in Naturgebundenheit, wie die wird aus spirituellem zu zoologischem Denken. – Man kann einwenden: der sinnliche Katholizismus sei romanisch, der unsinnliche Protestantismus germanisch . Damit sind aber Protestantismus u. germanisches Wesen nur halb erfaßt. Auch hier gilt, daß die Extreme sich berühren. Der Protestantismus ist in vielem unsinnlicher als der Katholizismus, er gibt dem Denken weiten Spielraum, allerweitesten, er führt es immer wieder über die Grenzen des Gehirnmöglichen hinaus ins Irrationale, er stellt das Irrationale, das Unter- u. Unbewußte, das Gefühl, das Geheimnis, den naturdunklen Instinkt als die eigentliche Tiefe des Geistes hin, klagt das Denken bald als Krankheit, bald als Oberflächlichkeit an u.

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