Klemperer, Viktor
Monaten deprimieren mich noch weiter. – Vorgelesen u. für mich gelesen, das * Lederstrumpfbuch 3 und: * Herman George Scheffauer 4 : Das Land Gottes. Das Gesicht des Neuen Amerika. Verlag P. St[ c ]egemann Hannover 1923.
Das Buch ist ausnehmend schlecht, so schlecht, daß ich das letzte Drittel bisweilen nur überflog. Die Minderwertigkeit ist eine doppelte: einmal liegt sie im übelsten Sprachschwulst, der in der Übersetzung noch übler wird, u. zum andern in dem wüsten immer einseitigen, oft wirren Schimpfen. Der Verf., Deutschamerikaner, erbittertster Gegner * Wilsons, leidenschaftlichster Deutschlandfreund, hat an der Lessinghochschule 5 Vorträge über Amerika in engl. Sprache gehalten, die nun, vielleicht etwas überarbeitet, in autorisierter Übersetzung erschienen. Das Vorwort trägt als Datum: Berlin, Februar 1923. – Steinitz, der mir den Band lieh, sagte mir, Sch. sei Mitarbeiter des Berliner Tageblatts gewesen; Sch. selbst bezeichnet sich einmal als Architekten. – Was mich an dem haßverzerrten u. oberflächlichen Buch interessiert, ist der Vergleich mit * Roß, d.h. die Frage: wieweit ist das Amerikabild, das hier den Deutschen unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg geboten wird, schon dem von 1942 ähnlich, u. wieweit weicht es ab? Nur unter diesem Gesichtspunkt u. nur hierzu will ich Einzelheiten notieren. –
Scheffauer verfährt mit Wilson ganz ähnlich wie Roß mit Roosevelt. Wilson ist für Sch bewußter Lügner u. Kriegsverbrecher. Und genau wie Roosevelt für Roß ist Wilson für Sch. umschichtig beides bald Verführer, bald Stimme u. Exponent der Volksseele.
Sch, u. das ist der entscheidende Unterschied von Roß, setzt mit völliger Selbstverständlichkeit eine einheitliche amerikanische Nation, der er eine einheitliche widerspruchsvolle Seele zuspricht. Mit ebensolcher Selbstverständlichkeit ist ihm diese Nation im Kern eine angelsächsische, puritanische u. ursprünglich englische. Die Rassen, der ständige Zustrom von Fremden, machen ihm kein Kopfzerbrechen. Er spricht bisweilen von Gruppen Fremder, von Polen, Italienern, Juden – eine schwangere Frau zeige sich höchstens im Judenviertel auf der Straße, den Amerikanern gelte das als indezent! Das gesamte Rassenproblem ist für ihn nicht da. Einmal klagt * er über aufkomenden Antisemitismus, über Lynchmorde an Negern, über Ku-Klux Klan – aber immer wieder hat er es mit dem amerikanischen Volk als Einheit, u. den nichtangelsächsischen Zugewanderten scheint er es zu überlassen, ob sie Amerikaner oder Fremde sein wollen. In der modernen Kunst leisteten Deutsche u. Juden Wesentliches, * Frank Reicher, 1 * Emanuel Reichers Sohn 2 leite die fortschrittlichste New-Yorker Bühne, das die des Theater Guild 3 144 er sei zugleich Gründer des Jewish Art Theatre 4 in New York. Widerum, um die Überheblichkeit des Amerikaners dem Fremden gegenüber zu zeigen, heißt es, er nenne die Deutschen Dutchmen oder Sauerkraut, die Ungarn hunkies, die Juden Yids oder sheenies etc. Also im Punkte der Zugehörigkeit zum amerik. Volk schwankend, aber an der Einheit dieses Volkes festhaltend. Das letzte Capitel heißt denn auch: Die amerikanische Seele – aber vom ersten Capitel abgesehen, das einen sprunghaften Geschichtsabriß bietet, handeln sämtliche Abschnitte von dieser Seele oder von ihren einzelnen Ressorts: vom politischen, vom Geschäftsleben, vom Privatleben, von Kunst u. Literatur, von der Erotik u. ihrer Gehemtheit durch den Puritanismus (das wirrste Capitel.)
Die Urteile über diese amerikan. Volksseele stimmen weitgehend mit denen bei * Roß überein, lassen nun überhaupt kein gutes Haar am Amerikaner. Für * Scheff. ist der A. nur Materialist, auch seine Religiosität, seine Kirchlichkeit ist materialistisch, ist zumeist business. Wenn der San Franzisko Examiner 5 vom 20. XII 22 anzeigt, daß morgen ein katholischer Pfarrer u. ein Rabbiner über denselben Bibelvers sprechen werden, so ist das nicht ein Zeichen für religiöses Interesse der Nation, sondern nur eine Pressecapitulation vor der religiösen Orthodoxie der Gedankenlosen 135. Der Am. ist also nur materialistisch, nur Erfolgsjäger.
Er hat Nomaden trieb, ist ruhelos. Zum Auto tritt hier der 77 Schaukelstuhl : geht sogar im Ruhen noch Bewegung! (Beachte aber, daß die Schnelligkeit des am. Autos begrenzter ist als unsere!)
Er schwört zu seiner heilig gehaltenen Verfassung, ist im politischen Anspruch Individualist und ist doch das lenkbarste Herdenvieh, das sich nie
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