Klemperer, Viktor
können, da ich doch offenbar am Ende meines Lebens stehe. –
Irgendwie mich mit dem Todesgedanken abzufinden vermag ich nicht; religiöse u. philosophische Tröstungen sind mir vollkomen versagt. Es handelt sich nur darum, Haltung bis zuletzt zu bewahren. Bestes Mittel dafür ist Versenkung ins Studium, so tun, als hätte das Stoffspeichern wirklich Zweck.
Dunkel drückend ist auch meine Finanzlage: bis zum April, bestimmt nicht länger, reicht mein Bankkonto. Aber diese Geldsorge bedrückt mich wenig. Sie scheint mir klein, wo ich mich immer, und zwiefach, dreifach, in unmittelbarer Todesnähe sehe.
Sehr enttäuschend geht das Jahr zuende. Bis in den Herbst hinein habe ich, hat wohl alle Welt es für sicher gehalten, daß der Krieg vor Jahresschluß fertig sei. Jetzt ist das allgemeine Gefühl u. auch meines: vielleicht in ein paar Monaten, vielleicht in zwei Jahren.
Zweiter Silvesteralarm,
ohne Keller, 22 15 –22 30
Wir wollten gerade schlafen gehen.
1945
1. Januar 45. Montag 19h .
Mittags 13 15 –13 55 den üblichen Alarm, ohne Keller, also: öffentliche Luftwarnung.
Vormittags * Steinitz u. * Frau bei uns; gegen Abend ging ich zu * * Witkowsky s hinunter – erstaunlich, wie dieser Moriturus sich hält. – Außer zum Luftschutzkeller u. zurück bin ich nun schon eine halbe Woche nicht mehr auf der Straße gewesen, in Lektüre, Vorlesen, Notizen u. Hausarbeit vergraben. – Frau Steinitz sagte ernsthaft, der liebe Gott warte so lange mit der Strafe für unsere Peiniger. Darauf ich, während sich die * Damen unterhielten, zu Steinitz: ich sei längst nicht mehr antiklerikal, der Glaube sei doch die größte Wohltat – sind Sie auch gläubig? Und er ganz ernsthaft ruhig: Ja, als verstünde sich das von selber. Es versteht sich für so unendlich viele Menschen von selber. Nur leider für mich nicht. Für E. auch nicht, aber sie vermißt es weniger als ich.
Im Reich vom 31. XII. ein * Goebbels-Artikel * Der Führer, so maßlos verherrlichend, daß die Überschrift ebensogut heißen könnte: ‹Der Heiland›. Wenn die Welt wirklich wüßte, was er ihr zu sagen u. zu geben hat, und wie tief seine Liebe über sein eigenes Volk hinaus der ganzen Menschheit gehört, dann würde sie in dieser Stunde noch Abschied nehmen von ihren falschen Göttern u. ihm ihre Huldigungen darbringen. Aber wichtiger als diese Vergottung ist ein anderes: zweimal heißt es, er gehe zwar leicht gebeugt, was vom Studium der Karte herrühre, einmal sein Haar sei ergraut, einmal: in seinem Alter habe * Friedrich der Einzige schon der alte Fritz geheißen. Aber trotzdem, u. darauf liegt aller Nachdruck, sei es Lüge, wenn die Feinde Gerüchte über sein Kranksein aussprengten: er sei gesund, sein Auge strahle jugendlich, u. er werde sein Schweigen brechen, wann es ihm, u. nicht, wann es seinen Feinden passe. – Ich nahm nach diesem Artikel erst recht an, daß Hitler krank sei. Aber nun hörte ich eben bei * * Witkowskys, daß er tatsächlich gestern Abend im Radio gesprochen habe. –
Dienstag gegen 20 h. 2. Januar 45
Der übliche Alarm dauerte heute (ohne Keller) von ½ 1–1. (Eben sagte uns eine Lieferantin * Frau Stühlers, die * Tante Lo, Leipzig habe seit ¾ 7 abgeschaltet; da können wir also mit Störung des Abendbrods rechnen.) Der Alarm verscheuchte * Katz, der zu * Bernhard St. gerufen war. (Halsentzündung – soll epidemisch auftreten.) Wir hatten wiedermal über jüdische Eigenschaften discutiert. Ich verweise immer auf * Dwingers Armee hinter Stacheldraht. 1 Der Stacheldraht ist schuld, nicht das Judentum. Zur Kriegslage äußerte sich Katz optimistisch: die Weihnachtsgans habe nicht einmal bis Neujahr vorgehalten id est: die Westoffensive 2 sei schon gescheitert. Zum selben Thema aber meinte * Neumark, den ich vor * Waldmanns verschlossener Tür eine Minute sprach: Zeitverlust! Die Amerikaner würden sich lange u. gründlich vorbereiten, ehe sie den Stoß gegen Köln wieder aufnähmen. Ich fürchte, daß Neumark Recht behält.
Mittwoch gegen 20 h. 3. Januar 45 .
Wieder der keller- u. schußlose Mittagsalarm 12 15 –12 35 . Seit heute früh Tauwetter, das sicher verzögernd auf alle Westoperationen wirkt. Ich war Nachmittags bei * Steinitz u. sah dort den Heeresbericht: blutige Stagnation sozusagen, Kämpfe im Westen u. bei Budapest, halber Sieg u. halbe Niederlage überall – so kann es den ganzen Winter u. Somer weitergehen. Herzbeschwerden, peinlicher als seit
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