Klemperer, Viktor
u. fühlte jetzt schon mein müdes Herz. Um 11 15 kam Frau Cohn, Hesse teile jetzt schon aus, ¼ Ctr Steinkohle, ½ Ctr Oberflöz, die Schlange sei groß. Indem Alarm (11 15 –11 55 ca). Ich würde es doch wagen, riet Frau C. Ich hatte die Eimer eben heruntergetragen – erst Asche ablegen, die Tonnen sind längst voll, man kippt auf den Haufen daneben u. staubt ein –, da kam schon großer Alarm. Wieder hinauf, Gepäck genommen u. in den Judenkeller. Entferntes Schießen. Gegen 12 Entwarnung. Hinauf, Kartoffeln auf das Flämmchen – werden sie gar werden? – u. zu Hesse. In eine lange Schlange. Die Steinkohlen – wenn ich doch nur 15 Ctr im Ganzen bekommen habe! gehen vor mir zu Ende, eine Frau hinter mir klagt, wird sofort von anderen Frauen zur Ruhe gewiesen. Wo wir doch noch ein Dach über dem Kopf haben! – Meine Eltern sind im Kampfgebiet, in Berlin – – meine Schwester ist in Breslau – was soll überhaupt das Klagen? Ist es wirklich mehr Haltung als 1918 oder bloß mehr Angst? Auf alle Fälle: das Volk kuscht. – Ich bekam endlich meinen halben Ctr. Flöz, machte zwei schwere Eimerwege. Danach bekam ich mühselig die Teemahlzeit fertig. Um 2 war dann E. zuhaus, mußte noch einmal auf Nachmittagstour. – * Steinitz kam üblicherweise, war merkwürdig zuversichtlich, sah alles als alter Kohlenhändler unter dem Gesichtspunkt der Kohle; ohne sie gehe es bestimmt nicht weiter, das Ende sei fraglos nahe. Ich schlief fast ein, während er hier war. Später kam ich dann doch noch ein wenig ins Arbeiten. Vornotizen zu * Ehm Welk, den ich in diesen Tagen mit vielem Genuß vorgelesen habe. Ein mir völlig neuer Mann, von Frl * Paulig an E. empfohlen.
Sonntag morgen (u. später) 4. II. 45.
Buchstäblich erster Gedanke morgens, letzter Abends: der nackte buchstäbliche Hunger u. die quälende Gasnot, beides immerfort verschlimmert.
Ehm Welk: Die Lebensuhr des Gottlieb Grambauer. Beichte eines einfältigen Herzens. Roman. Deutscher Verlag Berlin, Copyright 1938 (53–84 Tausend – also ziemlicher Erfolg)
Ich-Roman (in Stunden u. Ziffern statt in Kapitel zerlegt) eines 90jährigen, der mit 80 sein Leben zu schreiben begonnen hat.
Inhaltsskizze Gottlieb (Liepe) Grambauer * 1847 in Spreewalddorf. Großvater u. Vater Grambauer Garnwebermeister u. Kleinbauern. Großvater preußischer Soldat der Freiheitskriege. Großvater Hussak. Säufer, Wilderer, bösartig aber höchst vital. Vater (Astronomie beim Wasserabschlagen im Garten nach dem Spinnabend!), tapfer im Wiederaufrichten der durch Feuer zerstörten Wirtschaft, stirbt mit 37 Jahren. Großvater Grambauer stirbt fromm u. mit soldatischem Anstand vor ihm, Großvater Hussak im Delirium später. Die Mutter – ihre kurzen tüchtigen Briefe! – führt heldenhaft das Regiment, Wirtschaft, wird von Liepe immer ungeheuer verehrt. Ein jüngerer Bruder, der es bloß auf 83 Jahre bringt, wird leidenschaftlicher Bauer, wird Knecht der Erde. – Liepe der als Säugling die Revolution von 48 mitmacht – der Graf verspricht den drohenden Dörflern, hält sein Versprechen nicht, u. die Regierung stützt ihn – ist Dorfschüler, sehnt sich aus dem Dorfe. – Tischlerlehrling u. = Geselle in Kleinstadt. Berlin lockt. Gründerjahre. Fabrik. Handwerksnot; Meister erhängt sich. Verkrachende Fabrikbetriebe. Liepe bemüht sich, feiner Gustav zu sein, fällt herein. Eine Schankwirtin würde ihn heiraten, er fürchtet Großvater Hussaks Schicksal. Zurück aufs Land, verschiedene Orte in Pommern . Posten in der Milchwirtschaft. Liebe u. Ehe mit einer Gutswirtschafterin. Mudding wird zweite Idealgestalt neben der Mutter. Erarbeitet sich einen eigenen Hof etwas Vermögen in Kumerow. – Noch einmal Stadt, er will der Bolle von Stettin werden. Seine Gesellschaft verkracht, sein an sich freies Geschäft gibt er mit hinein, um über die gesetzliche Pflicht hinaus zu haften u. zu entschädigen. Zurück nach Kummerow. Beglücktheit Muddings, die nur auf dem Land leben kann. In Stettin sind ihnen zwei Kinder gestorben. Neues Sichheraufarbeiten; eigener Hof. Weltkrieg. Patriotismus. Der Sohn Martin, auf Liepes Wunsch Städter u. Architekt geworden, im Felde. Komt schwer leidend heim, die Mutter pflegt ihn gesund. Sie gibt den hungernden Stadtkindern. Sie hält Liepe davon zurück, Kriegsgewinnler zu sein. Sie ist gegen jede Politik. – Mudding stirbt. Der Sohn in Amerika, die älteste Tochter hat Volksküche in Berlin, die jüngste führt dem Vater erst die Wirtschaft,
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