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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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Tagen, müsse bis zum Frühling zuende sei. Die Soldaten hätten es satt. Die Russen seien von * Brauchitsch geführt. Alles im Kölner Dialekt, nicht alles verständlich. Manchmal hatte ich den Eindruck, er sei ein Spitzel, tat ihm aber doch wohl unrecht. Er sprach von der inneren Corruption, es gebe noch alle guten Dinge, man müsse bloß wissen, wo u. kaufkräftig sein. Er bot * E. aus voller Cigarettenschachtel zu rauchen an, u. steckte mir eine Cigarre zu. Nachher verloren wir ihn aus den Augen. – Ich fragte in dem NSV-Zimmer an, ob es eine Fahrgelegenheit nach Piskowitz gebe. Am Sonntag kaum, hieß es; ich möge aber in der Panzergrenadier-Kaserne anfragen, auch könnte ich jedes Militärauto auf der Landstraße anhalten. – Nach 7 Uhr begannen wir den Gepäckmarsch. Vieles vom Weg war mir von unsern Fahrten her in Erinnerung. In der Kaserne war man ungemein höflich zu mir, hatte aber keinen Transport nach P., auch mit dem Anhalten der Wagen glückte es nicht. (So oft ich mit NSV oder Wehrmacht oder sonst etwas Staatlichem oder Parteilichem zu tun hatte, gab es mir einen kleinen Memento-Ruck. – Seit der Frage des * Bürgermeisters hier ist der Ruck nicht mehr klein, u. eigentlich sehe ich den Tod ständig vor Augen, obwohl E. s Sondierung heute morgen auf Harmlosigkeit des Mannes schließen läßt). Wir mußten langsam, langsam die ganzen 8 km wandern. Ebene Äcker wechseln mit Waldstücken, die wie mit dem Lineal u. Winkelmaß gezogen sind u. aus dichtgestellten gleichförmigen u. unromantischen hageren Kiefern bestehen. In Großbaselitz war der Gasthof offen aber von einer Schippertruppe belegt. Wir gingen in die Küche, erzählten unser Unglück, wurden sofort gut aufgenommen, bekamen am Küchentisch Kaffee u. Buttersemmel, wofür Marken u. Geld verweigert wurden, und mußten berichten. Ein alter Mann, sehr rüstig, mit gutgeschnittenem u. rasiertem Gesicht, Wirt oder Vater des Wirtes, setzte sich zum eigenen Frühstück an den Tisch u. sprach laut u. unverblümt über das unsägliche Elend, an dem * ER schuld sei, ER allein, u. das er, der Wirt längst habe kommen sehen. Nun sei das Ende da. Wir nahmen diese Bewirtung als gutes Vorzeichen. – Bis hierher hatten wir zur Rechten schöne Berglinien gehabt, im Anfang auf u. zwischen den Hügeln das längliche in sich geschlossene Stadtbild von Kamenz. Jetzt war nur noch Ebene, nach einiger Zeit Wald u. dann, hinter dem Wald mit wenigen Häusern auftauchend, Piskowitz. Ein großes Dorf, ein unregelmäßiger Haufen von Fachwerkhäusern, ein großes Gutsgebäude, steinern gelbbrauner Bau, eigentlich Bauten , die in capriziösem Winkel aneinandergesetzt sind, ein großer Gutshof davor mit stattlich fester gelber Mauer. Ein Flügel des Gebäudes gehört jetzt der Wehrmacht als Lazarett. Dicht bei dem Gut eine lange Reihe knallgrüner Baracken, Lager der Arbeitsmaiden, das morgen geräumt u. von Truppen bezogen wird. Hauptcharakteristikum des Ortes: die große Anzahl von Marien- oder Heilandbildern an Häusern, an Felsen[,] überall. Ein Christus mit steinerner Säule an der kleinen Brücke. Wir fanden unser Haus mühelos jenseits des Baches.
    Nachm . Zerschlagen, aber eigentlich mehr vom plötzlich hereingebrochenen Schnupfen u. von Müdigkeit als von Todesangst, die nur als allgemeiner dumpfer Druck bald stärker, bald schwächer lastet. Ein wenig hält mich wohl auch das abenteuerlich Romantische der Situation aufrecht. * Eva war heute früh bei * Krahl, zeigte ihm ihren noch gefundenen[] Paß u. ihre Kleiderkarte, ob mit der etwas anzufangen sei, plauderte mit ihm, fand ihn harmlos, glaubt nicht, daß er uns verdächtigt.
    Wir kamen am Sonntag etwa am späten Mittag an. Ein kleines Mädchen, die 8jährige * Marka (Maria) vor der Tür: die * Mutter sei krank. In der uns vertrauten Stube lag * Agnes auf dem Sopha aufgebettet, sehr wenig verändert mit dem alten hochroten Gesicht. Entsetzen u. Freude u. wieder Entsetzen – sie habe uns seit Jahren, seit * Michel das Haus in Dölzschen von uns verlassen u. mit großer Fahne vorgefunden, für verschollen gehalten. Dann mit der klagenden Stimme, die sie immer an sich gehabt: jetzt habe es sie geworfen – aber es war nur eine Grippe im Abklingen, u. am nächsten Tag raffte sie sich schon wieder – nach allzuvielem Unglück: ihr jüngstes * Kind, ein Dreijähriges, 1 sei im Dezember 43, ihr Mann, nur 46 Jahre alt, im September 44 an Grippe u. Lungenentzündung gestorben – keine Ärzte, keine Medikamente, kein

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