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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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der Leute, man gebe ihnen kein Quartier, oft keine Pferde, lasse sie hungern, habe nirgends Raum für sie. Ich fragte sie, warum sie denn vor den Russen fliehe. Sie sah mich an wie einen Idioten. Ob ich denn nicht in der Zeitung gelesen hätte, welche Greuel die Bolschewiken verübten? Man sieht die Wirksamkeit dieser Propaganda.
     

 
    Mittwoch 21. II. 45. Vorm.
     
    Starker Regen, unmöglich in meinen flachen u. lädierten Schuhen auszugehen. –
    Gedanken in der Nacht. * Nous en parlerons ès chambres des dames 3 .. Muß hübsch sein, aber die Aussicht ist schwach. Ich werde bei Entdeckung fraglos erschossen. Retten kann mich nur baldiger Zusamenbruch. Daß er nicht komt, ist wider alle Natur Natur. Verzweiflung u. Chaos überall, aber die Fronten stehn. Warum nicht noch zwei, drei Monate? Und inzwischen bin ich entdeckt. Oder die Russen erschießen uns trotz des Sterns .. Man muß sich dem Schicksal überlassen ... Wenn man gläubig wäre wie die Leute hier! – –
    Das Scholzesche Anwesen – Namen Scholz e , Roth e sic! – ist vielleicht das winzigste im Ort. Im Fachwerkhäuschen zwei Stuben. Unten die uns vertraute niedrige Wohnstube mit dem vielen katholischen Schmuck, oben eine Schlafstube mit zwei Betten für das Ehepaaar u. einem Kinderbett. Oben wie unten ein winziger Flur, u. jenseits des Flurs eine Kammer. Aus dem Flur unten eine allerwinzigste Küche ausgespart mit Herd, Kessel, Wasserleitung (ohne Ausguß). Hinter dem Haus der Stall u. der unmögliche Abort, hinter dem Stall die Scheune. In der Küche wäscht sich alles – wir auch – aus einer Waschschüssel (aber der Herd hat immer warmes Wasser); den Abort zu benutzen ist bei seiner Enge ein qualvolles Kunststück, es herrscht Papiernot, da keine Zeitung aus Dresden komt. In der Wohnstube schläft * Agnes auf dem Sopha, der * Junge auf dem Boden. Oben schliefen die erste Nacht * E. u. ich in einem Bett, * Marka in dem andern. Danach sollten wir die Kamer nebenan bekomen, in der im Augenblick Getreide liegt. Aber da man immerfort mit Evakuierung rechnet, räumt Agnes nichts um: jetzt liegt Marka oben im Kinderbett, u. wir teilen uns in die Ehebetten. Da man das Zimmer nicht verdunkeln u. beleuchten kann u. das Ankleiden im Stockfinstern schwierig ist, schlafe ich, wie gesagt, in Hosen. Unten ist die Kammer von der Einquartierung belegt – Bayern, gute zutunliche Leute, sie haben E. Cigarettenpapier geschenkt u. mir Cigarren. In der Wohnstube, in der ich stundenlang meine Notizen mache – qualvoll die Tinte, das Papier, die Feder aus dem Colonialladen! – spielt sich alles ab: Juri k wickelt die Fußlappen, Marka wird angezogen, Agnes frisiert sich, ich selber habe mich gestern hier rasiert, vom dicken Wochenbart befreit, mit dem Rasierzeug, das ich von feu * Michel überkomen habe (auch einen schönen Hut habe ich von ihm geerbt). Auf dem Holztisch, der nie gedeckt aber häufig naß abgewischt wird, vollzieht sich jede Arbeit, Spielen u. Schularbeit, Stopfen, Essen. Waschen tut man sich wenig, baden gar nicht. Alles Civilisatorische oder Städtische, alles in der Stadt Selbstverständliche fehlt, wahrscheinlich schon in normalen Zeiten und gar erst jetzt. (Aber eine Wasserleitung u. elektrisches Licht gibt es.)
    Dem allen gegenüber steht aber paradiesisch die Ernährung. Es ist nicht so, als behandelte uns * Agnes als Gäste u. briete Extrawürste, sondern wir bekomen genau das, was sie u. ihre Kinder essen. Nun ging es uns beiden wohl in Dresden besonders schlecht, wir empfanden ja schon die Kost in Klotzsche als eine Herausfütterung. Hier aber nährt man sich wahrhaftig von Rahm u. Butter u. erhält an einem Tag mehr Calorieen als es in Dresden wöchentlich gab. Wir bekomen morgens u. Nachmittags in beliebiger Menge das schöne Landbrod mit Butter u. Quark oder Honig. Wir bekomen zu Mittag eine kräftige Suppe, fast immer Fleisch, Abends auch. Man hat Karnickel u. schlachtet sie, man hat Milch in Menge (von zwei Kühen), liefert nicht alles ab, was man abliefern soll u. buttert ein bißchen schwarz. Gestern Nachm. bekamen wir Eierkuchen zum Kaffee. * Eva aß 2 ½ u. ein Brod mit Fleisch hinterher, ich aß 3 ½. Zum Vergleich: bei Maxe gab es in besseren Zeiten einen Eierkuchen gegen 100g Weißbrod- u. 10 gr Fettmarken; seit Monaten fehlten die Eier, u. so gab es für die genannten Marken einen Kartoffelpuffer. Der u ein halber fettloser Stamm waren E. s Vorzugsmittagsbrod.) Der Nachbar schlachtete gestern ein Schwein, davon bekamen wir

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