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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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genügender Aufenthalt im Krankenhaus! – ihr tüchtiger * Pflegesohn (der uneheliche des Mannes) befinde sich mit 18 Jahren in amerikanischer Gefangenschaft, * Juri k , der Dreizehnjährige sei fahrig u. arbeitsunwillig, Marka die gute noch zu klein. Nur die * Schwägerin helfe ihr. Und dann die Flüchtlinge, u. dann die Soldaten, u. dann der drohende Hunger u. die drohende Evakuation. Aber daß sie uns aufnahm, war ihr eine Selbstverständlichkeit; sie sagte, es sei ihr viel Leid u. eine Freude prophezeit worden, u. das Leid sei eingetroffen, u. jetzt seien wir die Freude. Unsere Situation oder Constellation verstand sie sofort. Mit gleicher Selbstverständlichkeit u. Herzlichkeit begrüßten uns ihre Angehörigen, die sofort über uns im Bilde waren (ob auch über den Stern, weiß ich nicht, denn untereinander spricht man wendisch). Agnes Vater, der alte * Zschornak, der sie uns vor reichlichen 20 Jahren nach Dresden gebracht, kam zu gelegentlicher Hilfe aus dem Nachbardorf und begrüßte uns als alte Bekannte, ein riesiger kaum gebeugter 76jähriger, der sich mit Aushilfsarbeiten reichlich Geld u. Essen verdient. Die Schwägerin Roth ist stundenlang in der Wirtschaft tätig, ihr * Mann, Arbeiter im Sägewerk irgendwo, sitzt abends hier u. politisiert. Leidenschaftlich antinazistisch, katholisch, tschecho- u. slavophil. Er hört mit Selbstverständlichkeit Beromünster – das dürfe er, das sei neutral – es kostet den Kopf, Herr Roth! –, das Land hier gehöre bis nach Rügen den Sorben, er werde vor den Russen nicht fliehen, er u. * Agnes glaubten die Hetze u. Greuelmärchen nicht, der Krieg müsse in kürzester Zeit zuende sein, Herr * Hitler habe den General Hunger vergessen .... In sein Politisieren herein traten am Sonntag Abend gebückt zwei große Soldaten u. forderten im bayrischen Dialekt Quartier für sich u. 4 Pferde. Seitdem hat die Einquartierung nicht aufgehört, die Soldaten sind aber von nettester Zutunlichkeit; uns beiden schenkten sie Cigarren u. Cigarettenpapier. Wieweit sie zu Train, Artillerie oder Infanterie gehören, ist nicht eindeutig festzustellen – all das scheint es im Ort zu geben. – Flüchtlinge, Soldaten, Bau an Panzer Panzersperren, Schützengräben, pferdebespannte Trainwagen mit Cementsäcken u. anderem Gerät signieren die ganze Gegend.
    Dazu die Fliegerei: Vom Fliegerhorst Kamenz her ist ein ständiges Surren. Und alle Weile streift donnernd ein Stuka die niedrigen Dächer. Mir jedesmal ein peinliches Gefühl, denn ich weiß nie ganz genau, ob es nicht vielleicht ein feindlicher Tiefflieger ist. Man ist sich nämlich nie im klaren, ob Alarm herrscht. Piskowitz selbst besitzt keine Sirene, es besitzt auch keinen Keller. Man verläßt sich darauf, daß dem unwichtigen Dorf nichts geschehen wird. Aber 8 km entfernt liegt der Fliegerhorst Kamenz, u. in die Baracken der Maiden soll morgen Militär gelegt werden, u. eben hat Großbaselitz Flak bekomen, u. eben zeigte uns ein kleiner Abendgang – es ist inzwischen 19 h geworden – eine neue Panzersperre mitten im Ort. Sodann berichtete ein alter Töpfer aus Großbaselitz, daß das berühmte Geschwader * Rudel 1 von Kamenz aus seine Frontflüge mache. Ajoutez-y 2 den funkelnden Mondschein ... Gestern Mittag, als wir zum * Bürgermeister gingen, herrschte ferner Alarm, u. nach einer Weile rauschten unsichtbare Geschwader über uns, es war ne hibsch. Heute Nacht, es war noch stockfinster, aber schon ½ 5, weckte mich * Eva: Alarm! Es wurde anhaltend u. heftig in ziemlicher Nähe geschossen, wir zogen uns an u. gingen mit dem Gepäck herunter, auch * Agnes u. die * * Kinder standen auf. Nach längerer Zeit hörte man ferne Entwarnung. Wir schliefen dann noch eine Weile – aber aus den Hosen kome ich nie.
    Voces populi . Der alte Ofensetzer lamentierte gräßlich. Aber capitelieren könnten wir nicht, wir müßten die Russen zurückhauen, schlimm genug, daß wir sie hereingelassen hätten. Ich hielt ihn für einen großen Nazi. Nach einer Weile: Was wäre aus uns geworden, wenn Hitler am 20. Juli getötet worden wäre? Nachdenkliche Pause, ich erwartete etwas von der gnädigen Vorsehung. Nach langer Pause fuhr er fort: dann hätten wir vielleicht schon Frieden. – Vormittags kam eine rüstige hagere Großmutter von 72 Jahren u. focht um Kartoffeln. Stärkstes Ostpreußisch: zuerst in Essen ausgebombt, zu Kindern in ihre Heimat Königsberg, wieder ausgebombt, dann evakuiert nach Schönau, dort auf den Treck gesetzt. Gemeinheit

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