Klemperer, Viktor

immer gleiche Themen: Bin ich hier in Sicherheit, u. wie lange noch? Forscht man in Dresden nach, gibt es schon wieder suchende Behörden? Wann komen die Russen? Wie lange kann ich warten? .. Noch ein bißchen Schlaf. Dann Aufstehen. Unten * Agnes klagend, wie auch schon üblich. Morgen will sie nach Kamenz zum Arzt. Gewöhnung, wie ich den Garten als Pissoir benutze, wie ich mir in der Küche, in der einen Schüssel herrlich Kopf u. Gesicht wasche u. die Zähne putze, im übrigen aber ungewaschen bleibe, ungewaschen u. unausgezogen wie 1915 in Flandern. Wie wir dann in der Stube auf das Frühstück warten, während Agnes die * Kleine anzieht u. sorgsam kämt u. zöpft. (Zwischen Agnes u. * Jurik, zwischen Jurik u. Marka herrscht gar keine Herzlichkeit u. viele zänkische Grobheit). Das Frühstück. * Morgenrot – leuchtest mir zu Quark u. Brod! 1 sage ich zu E., aber ich kann auch die Fortsetzung 1 nicht zurückhalten: lieber möchte ich irrtümlich von den Russen erschossen werden, als der Gestapo in die Hände fallen. Und E.: Man muß beizeiten, Ja Gewree 2 ' sagen. – Dann wieder krampfhafte Ablenkung auf anderes. –
    Ich fand hier mit herausgerissenen Seiten, auch das Titelbild mit Datum fehlt, ein Deutsches Lesebuch für Volksschulen, 2. Schuljahr. Märchen von * * Grimm, Kinderverse von * Heinrich Seidel, von * Hoffmann von Fallersleben, 3 * Robert Reinick 4 usw. Ganz harmlos. Dazwischen:
    Der Tierfreund .
    Hinter dem Landhaus unseres * Führers liegt ein großer Garten in einer Bergwiese. Da tollen drei schöne Schäferhunde umher, die heißen Muck, Wolf u. Blonda. Wenn sie ihren Herrn komen sehen, springen sie ihm freudig entgegen u. an ihm hoch. Auch die beiden zierlichen Rehe kommen zutraulich heran. Sie wissen, daß der Führer gut zu ihnen ist u. ihnen nichts zuleide tut. Nie kommt er mit leeren Händen, immer hat er etwas Gutes für sie. Unser Führer möchte, daß alle Menschen gut zu den Tieren sind. Daran sollt ihr immer denken!
    Nach * Baldur von Schirach.
    Ähnlich ein Stück: Der Führer kommt! von * Barthel Reinlein. 5 Da wartet der kleine Reinhold an der Hand eines SA-Manns auf das Flugzeug des Führers. Als der aussteigt u. freundlich grüßt – da kann sich Reinhold nimmer halten. Im Nu ist er weg von dem SA-Mann, rennt über den Platz hin zum Führer u. reicht ihm die Hand. Der lacht ihn an u. geht Hand in Hand mit ihm zum Auto. Das wird Reinhold nie vergessen. – Ein anderes Stück, Arbeitslos von * Magda Kettner-Agahd, erzählt vom arbeitslosen Vater u. der weinenden Mutter. Erich berichtet: Unser Lehrer hat gesagt: Zuerst waren es in Deutschland sechs Millionen Arbeitslose, u. jetzt sind es nur noch zwei. Und die zwei Millionen schafft * Hitler auch noch weg; das sollt ihr mal sehen! Die Mutter: Aber bei der Reichsautobahn sei der Vater mit seinem zerschossenen Fuß abgewiesen worden. Der zweite Junge tröstet: den Kriegsopfern wolle der Führer ganz besonders helfen. Indem komt der Vater: man hat ihn in einer Schreibstube angestellt. Und die Kinder erhalten Wurst in ihre Kartoffelsuppe geschnitten.
    So ist ER den Kindern zum gütigen Heiland gemacht worden. Und dies ist nun eines der ganz wenigen Bücher, das ich zerfetzt in diesem Dorfhäuschen finde. Neben dem deutschen Volksatlas! Freilich auch neben einem wendischen Katechismus u. einer wendischen Bibel. – –
    Unter alten Papieren, Katalogen etc. fährt hier herum, verschmiert, mit fehlenden Blättern, Gott weiß, wie hergekomen, eine Denkschrift des Sächsischen Lehrervereins Zum Kampf um die Volksschule 1925 . Es ist eine oppositionelle Stellungnahme zu einem Bericht u. Programm des Sächs. Ministeriums Kaiser. 6 Man verteidigt sich gegen vorgeworfene Mängel, man gehört zur SPD, wenn nicht KPD u. steht in Abwehr gegen die Volkspartei u. die Rechte. Daran ist mir vieles sub specie LTI wertvoll. 1) Die Mängel der Volksschule werden erklärt aus der ungeheuren sozialen Not der Jahre 1914–24, die von der Rechten verschleiert würde. Genaueste sächsische Statistiken über Hunger, Wohnungselend, Kohlennot, Krankheiten, Mangel an Lehrern, an Unterrichtsmaterial, Ausfall von Schulstunden. Hier ist die körperliche, geistige, moralische Grundlage des * Hitlererfolges. 2) in ihrem Kampf gegen die alte grammatische, theoretische Schule, für die Arbeitsschule – lebensnah, Gemeinschafts arbeit, = Spiele, = Gesinnung, gegen die Philologen, gegen die höhere Schule, gegen den Intellektualismus .. stehen die Leute genau da, wo der