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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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Treppe hinunter – die Kleine in den Stall. Agnes klagte laut, daß es keinen Nachttopf zu kaufen gibt. Ich selbst hielt merkwürdig durch. Tagüber ziehe ich jeden Baum u. jede Hecke der Abortenge vor. (Übrigens: willkomenst, o Kamenzer Tageblatt!). Wir schliefen noch einmal ein. Dann Dämmerung. Ich sah im Herunterkomen dunkelleuchtendes breites Morgenrot, dann eine Menge zarter ineinanderfließender Farben: gelb, grünlich, fahlviolett, rosa .. Der Boden war überfroren u. bereift. Aber schon eine halbe Stunde später hatten wir wieder Nebeldunst u. tröpfelnden Regen. Den ganzen Morgen über hörte man – links vom Morgenrot – ganz fernes ununterbrochenes Grollen. Das soll die Front bei Kot[t]bus sein.
    Ich will nun damit beginnen, auf einem Sonderblatt die Dresdener Schreckensnacht nachzutragen. Sie hat sich mir besonders eingeprägt, u. so habe ich damit gewartet, bis ich die übrigen Notizen beisamen hatte. An der Durchführung des Tgb s halte ich mich innerlich fest. Nur nicht leerlaufen, nur keine Zeit haben zur Todesangst! Manchmal spiele ich jetzt wirklich mit dem Gedanken der Vorsehung. Aber wieso bin ich besser als die 200 000 Toten? Und was haben die verschuldet?
    Nach Tisch gegen 14 h . Im todumdrohten Paradies. Während eines großen Alarms aßen wir ruhig unser Mittagbrod, eine Hirsesuppe u. Gulaschfleisch u. Kartoffeln – wann hätten wir das je in Dresden gehabt? Aber * Agnes sitzt krank dabei, die Lunge scheint ihr Beschwerden zu machen, u. wenn sie ausfällt, wo dann hin mit uns? Am Sonnabend soll ein Auto nach Kamenz gehen; das will sie zum Arztbesuch benutzen. Hier heraus komt kein Doctor mehr. – Ich benutze den nassen Vormittag zum Rasieren, zum Tgb., zum Beginn des Katastrophennachtrags. Die * * Kinder stören sehr, durch Lautsein u. dadurch, daß sie wie zerstörende Affen nach allem greifen, nach Brillen, Schreibzeug, Cigaretten u. Zubehör ... * E. ist geschickt u. geduldig im Umgang mit ihnen; ich leide schweigend.
    Trecks aus dem Görlitzer Bezirk. Eine große schwarzweiße u. bunte Rinderherde mit mächtigen Tieren, von Soldaten geführt u. gefolgt. – Eben hält ein Flüchtlingswagen vor dem Nachbarhaus.
    Dort werden Leute untergebracht.
    Abends . Am Nachm. war eine zweite Schwägerin, zweite * Schwester des * Michael Scholz hier, Mitte 50, unverehelichte Mutter eines inzwischen beim Militär gestorbenen * Sohnes, Aushilfsarbeiterin, Rentenempfängerin, mit den * * Rothes zusammenwohnend – es geht ihr besser als mir, sagt * Agnes. Die Frau, Mitte 50, kennt unser Dölzschener Haus, weiß mehr von mir, als mir lieb ist, ich bat sie still zu sein. Sie ist eine merkwürdige Mischung aus leidenschaftlich antinazistischer Gesinnung u. Aufgeklärtheit u. krassem Aberglauben. Es gehe jetzt rasch zuende, unsere Zeitungen seien verlogen, die Soldaten wollten nicht mehr, spätestens im April – (für uns zu spät!) – wäre alles aus, vielleicht viel früher. Und hier der Wendei werde nichts zustoßen, sie habe von alten Leuten eine Prophezeiung gehört, die jetzt in Erfüllung gehe. Die Prophezeiung laute: Wenn die Frauen geringelte kurze Haare u. Hosen tragen u. wenn es Schwefel regnet – beides ist heute der Fall! – dann werde die Lausitz von Truppen durchzogen werden aber heil bleiben! – Sie sagte noch: warum habe man die Juden gequält; man hätte ihnen ja eine große Steuer aufbürden können, dann wären sie von selber abgezogen! –
    Eine junge Frau von einem Treck aus Görlitzer Gegend kam u. erhielt für ihr Kind u. ihre Mutter ein bißchen Honig. Sie klagte über das Chaos u. die Desorganisation der Treckzüge.
    Am späteren Nachmittag – der Regen hatte aufgehört – gingen wir ein wenig aus dem Ort heraus. Hügel mit schönem Birkenwäldchen u. hübscher Schonung in Christbaumhöhe, dunkelroter Abendhimmel, in weiter Ferne das Artilleriegrollen, wohl aus Kot[t]bus. * E. ging dann noch wegen unsrer Ersatz Bezugsscheine zum * Bürgermeister; er war wieder durchaus harmlos zutunlich. Trotzdem bin ich keine Stunde ohne Sorge. Mein Name liegt überall offen; wenn man nachforscht ...
    Während ich schreibe, ist wieder Alarm, der zweite dieses Tages.
     

 
    Freitag Vorm. 23. Februar 45
     
    Regen. Fast schon gewohnter Alltag. Fast auch schon an die immer wieder zurückgedrängten Anfälle der Todesangst gewöhnt. Gewöhnung das halbbekleidete schwitzende Schlafen, das Trocknen des Hemdes am Körper. Das Warten auf die Dämmerung. Zwischendurch Gespräch mit * E. um

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