Klemperer, Viktor

Mittags fettes Wellfleisch u. Abends fette Wurst u. Wurstbrühe. Lange Jahre hindurch habe ich kein Mittagessen mehr vertragen; jetzt bin ich so ausgehungert, daß ich jede Mahlzeit in großen Quanten mit vollem Appetit verdrücke, das Frühstück um 8, das Mittag um 12, den Kaffee um 5 u. das Abendbrod um 8 .. In der ungeheuren Notlage ist nun doch – wogegen ich mich früher gewehrt habe – der Bauer der wichtigste u. der glücklichste Mann. Sattwerden ist das allererste, selbst wohnen kommt hinterher. – Agnes besitzt außer einem bißchen Acker u. Wald zwei Kühe, eine Ziege, ein Schwein, Kaninchen, Tauben, etliche Gänse u. Hühner, an 30 Bienenvölker. Die Überwachung des Ablieferns soll erbitternd streng sein, trotzdem wird manches auf die Seite gebracht. Der Milcheimer morgens dürfte für einen unserer üblichen Stadtläden genügen. Und hier kennt man keine Magermilch. Wir trafen Agnes heute morgen mit einer großen braunen Steinkruke; darin butterte sie heimlich u. mit stillen Schaukelbewegungen. – Der Ofensetzer hat gestern den Herdkessel in der Miniaturküche verschmiert, weil auch unser Schwein (zwischen 2 u. 3 Ctr.) geschlachtet werden soll.
    Schulunterricht der Kinder . Gestern ging * Marka nach Großbaselitz, für eine Stunde, übertäglich im Gasthaus. Heute * Juri k ebenso nach Kleinbaselitz; er lehnte aber diese Bezeichnung ab; es heißt Deutsch-u. Wendisch-Baselitz. Man läßt sich das Wendische nicht nehmen. Juri k kam ununterrichtet zurück. Im Gasthof kampierten Treckleute; es stinke zu sehr, hatte der Lehrer gesagt. Gestern abend half * E. der Marka auf der Schiefertafel rechnen. 5 + 2, 3 + 4 .. unbegreiflich wie schwer es der Kleinen wurde, an den Fingern abzuzählen. [Gestrichenes unleserlich] Sie haben neu Deutschen Schulatlas[] von * Philipp Bouhler (facsimilierte Unterschrift) unter dem 1. Sept. 1942 herausgegeben. Furchtbare Hybris. Aus dem Inhalt: Großdeutschland im mitteleuropäischen Raum, Großdeutschland als Lebensraum, die Gaueinteilung der NSDAP, Deutsche Colonieen, Nürnberg, Stadt der Reichsparteitage, München, Hauptstadt der Bewegung .... Ein Deutsches Zahlen- u. Rechenbuch stellt seine Aufgaben aus dem Winterhilfswerk 1938/9, dem Versailler Diktat, der Abschaffung der Arbeitslosigkeit durch Adolf Hitler, etc.
    Bisweilen kommt ein Soldat ins Zimmer: Frau, kann ich a wenig Mehl haben? Dann gibt es eine kleine Plauderei. Die Leute sind resigniert – das sei kein Krieg mehr, nur noch ein Schlachten, die Russen seien in ihrer Übermacht nicht aufzuhalten usw. usw. –, aber sie sind eben nur resigniert u. müde – einer von ihnen ist seit 7 ½ Jahren Soldat – u. keineswegs defaitistisch oder gar rebellisch. Sie lassen sich fraglos weiterschlachten, sie leisten fraglos weiteren Widerstand. – –
    * Juri k brachte von seinem vergeblichen Schulweg gefundene Patronen mit, u.a. einen ganzen Rahmen. Wir sagten, die Russen erschössen sämtliche Hausbewohner, wenn sie die Patronen hier fänden. Daraufhin nahm die Mutter sie ihm weg, was ihn grausam beleidigte.
    Gegen Abend . Den größeren Teil des Tages hat es geregnet. Dadurch machte der ständige Vorbeizug der Flüchtlingstrecks besonders jämmerlichen Eindruck. Vor den Leiterwagen Pferde- u. Ochsengespanne, auch Pferd u. Ochse zusamen, hinten angebunden Pferde u. Pferdchen. Wie aus früheren Jahrhunderten. Und das im Verein mit den Greueln der Flugwaffe. Am Nachmittag gingen wir ein Stück spazieren. Aufgeweichte Landstraße u. Waldrand. Wieder Trecks. Im Ort baut man eine zweite Sperre: Verengungen (nicht Schließung!) der Straße durch Steinwälle u. davor gestellte Baumstäme. In den Höfen Militär mit wohlgehaltenen Reitpferden – seltsame Infanterie! Am Waldrand u. auch sonst auf den Straßen Stan[n]iolstreifen, wie sie die Flieger zur Ablenkung der Suchgeräte abwerfen. (NB. Juri k zeigte mir abgeworfene Flugblätter). – Zuhaus trafen wir eine Händlerin aus Dresden, die am Wilden Mann unausgebombt die Schreckensnacht miterlebt hatte , u. die am Montag Dresden verlassen hat. Ihre Verwandten * Kuske (unsere Lieferanten in der Holbeinstr.), * Mutter u. * Tochter, seien tot. Es herrsche ein greulicher Leichengeruch, man nehme amtlich 200 000 Tote an, 1 Wasser gebe es schwach laufend, Gas nicht, Zeitungen gibt es nicht, dafür ein Merkblatt des Freiheitskampfes, das alles alles mit Erschießen bedroht, durch den Schutt hat man schmale Gassen gezogen, man sieht Zettel: ‹Ich bin gerettet .. Ich suche den u. den