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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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Agnes war fort – rief eine Frau zum Fenster hinein, heute sei Schule in Nebelschütz. (Mündliche Ansage des ganz unregelmäßigen Unterrichtes, der bald in diesem, bald in jenem Dorf stattfindet.) * Marka sollte um 11 h dort sein; sie ist wenig arbeitslustig, hat keinen Lernwillen, bringt erst ein paar Buchstaben auf der Schiefertafel zustande. Nun mußten ihr die Haare gekämt u. geflochten werden; E. hatte das der Agnes schon abgesehen u. flocht die Zöpfchen u. machte eine stattliche Frisur. –
    Auch Juri k hätte zum Unterricht gesollt, hatte aber in der Wirtschaft zu tun. Sehr weit über den Analphabetismus bringen es beide Kinder bestimmt nicht; der Unterricht scheint wöchentlich höchstens 3 x ein bis zwei Stunden zu umfassen. Hinzukommt, daß er ganz deutsch erteilt, u. daß zuhaus fast ausschließlich wendisch gesprochen wird. Deutsch bleibt durchaus Fremdsprache. (Alle Crucifixe sind wendisch beschriftet; gestern fanden wir ein 1918 gestiftetes in beiden Sprachen, u. das war auffälligste Ausnahme.)
    – Ein kleiner Abendspaziergang bei Vollmond auf nasser Landstraße; mein Herz streikte, da mir der schwere Schnupfen den Athem verkürzt. E. schon seit Tagen sehr mitgenomen.
    – Der Krieg scheint zu stagnieren, u. der Druck der unsicheren Lage wächst mit jedem Tag. –
     

 
    Sonntag Vorm 25. II
     
    Gestern Abend wusch sich * Juri k hier im Zimmer in der Waschschüssel die Füße; aber es gab abends u. gab heute früh Fleischwurst u. Fleisch u. eine Fülle guter Sachen, die kein Großstadthôtel bei allem Comfort aufzubringen vermöchte.
    Ich für meinen Teil schwelge besonders im Honig. * Agnes sagt, für Honig tausche sie alles ein, gute Seife (die auch mir zugute kommt) z.B. Und jetzt danke sie es dem Honig, daß der Schlächter schon am Mittwoch ihr Schwein schlachten werde. Der Mann ist jetzt überhäuft, denn alles schlachtet, weil man mit Russen u. Räumung rechnet; aber für Honig schwärmen er u. seine vielen Kinder.
    Heute Nacht schlief ich das erstemal ohne Hosen (u. verschlief gleich * Eva einen Alarm), denn die meinigen sind zerrissen u. * Michaels leihweise geerbte – ich trage jetzt seinen Hut, seine Stiefel, seine Hose – sind mir sehr eng. Heute früh nach wunderbar rotem durch kahles Geäst leuchtendem Morgenrot, nach üppigem Frühstück zog die * * Familie Scholze in das Nachbardorf Nebelschütz zur Seelenmesse für den Mann – Agnes in großer Toilette (weiße Haube unter großem schwarzem Kopftuch, [Gestrichenes unleserlich] unter ganz hoch gebundenem schwarzen Rock ein grüner mit schwarzem Sametstreifen). Ich benutzte die Stille u. Einsamkeit, zog mich in der kleinen Küche ganz nackt aus, wusch mich ganz ab, zog eine neue Unterhose an. Nur einmal riß der einquartierte Soldat trotz der Abriegelung die Tür auf, retirierte aber sogleich, u. ich wurde mit dieser ersten Abwaschung seit der Katastrophe gut fertig.
    * Agnes hatte erzählt, daß auf der Bank u. Sparkasse in Kamenz kein Geld zu haben sei, Dresden schicke keines. Daraufhin wohl fiel mir in der Nacht ein: Was sagen, wenn mich * Krahl nach meinen Finanzen fragt? Nach Erwägungen mit E. wurde wieder die Karten-Aufdeckung beschlossen: das Ruhegeldamt werde sicherlich bald wieder meine Pension meiner Bank überweisen. – Wenn ich nur wüßte, ob u. wie das Ruhegeldamt u. all die andern Institute in Dresden schon wieder arbeiten, u. wieweit sie ihre Listen u. ihre Beamten bewahrt haben. Umschichtig glaube ich mich in äußerster Gefahr u. in völliger Sicherheit. –
    Die Frömigkeit hier: An der Tür, wo in der Zeughausstr. die Mesuse 1 hing, hängt hier ein Weihkesselchen . Es wird nicht benutzt. Aber vorgestern Abend (u. ich glaube 3 x wöchentlich in der Fastenzeit) mußte * Jurik in die Kirche nach Rosenthal, u. heute, wie gesagt, sind sie alle zur Seelenmesse nach Nebelschütz, u. hier liegt eine Condolenzkarte: Herzliche Teilnahme, anbei eine Geldspende zur heiligen Messe. – Sie sind katholisch, sie sind wendisch, sie wollen vor den Russen nicht fliehen.
    Sie haben politisches Gedächtnis, u. manches ist aufs Dorf gedrungen u. hat sich eingeprägt. Die ledige * Schwägerin sagte gestern: * Hitler hat gesagt, er werde die englischen Städte ausradieren 2 ; nun ist Dresden radiert . Ein Kamerad Juriks hatte eine leere Ramsesschachtel da u. citierte den Scherz, den wir im ersten Russenkriegsjahr im Pschorr hörten: Ramses von vorn u. hinten gelesen.
    Juri k brachte gestern eine Ziehharmonika her u. spielte ein

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