Klemperer, Viktor
weil sie glaubte, wir hätten ein paar Schlüssel bei ihr vergessen; wir hatten sie aber mit Absicht liegen lassen, weil ja das dazugehörige Haus nicht mehr steht! (Hier muß ich einen rührenden Zug der * Agnes nachtragen: Agnes kam einen langen nassen Waldweg athemlos hinter dem Leiterwagen hergeradelt u. brachte ein Wollkleid, das E. in der Piskowitzer Kamer liegen gelassen.) Und am Sonntag Abend saßen wir mit Annemarie u. Dressel bis in tiefe Nacht beim Plaudern über die Lage. Beide waren überzeugt, daß für Deutschland alles verloren, daß der weitere Widerstand Verbrechen sei – beide sahen kein Ende. –
Wir schliefen gut trotz der verzweifelten Lage. In Dr. s Schlafzimmer hing eine SA-Uniform, irgendwo steckte ein Hakenkreuzfähnchen als Kinderspielzeug. Ein Kinderbett, ein kleines Zebra aus schwarzen u. weißem Bast geflochten, allerhand kunstvolle Tier- u. Engels- u. Zwerggestalten an den Wänden wiesen auf Kinderbelegschaft. Wir konnten uns waschen, ich konnte mich am Montag rasieren – alles das war Hilfe. – Während ich mich rasierte ging E. zum Bhf. 75 km konnte man ohne Bescheinigung der Kreisleitung fahren. Wir wollten die Partei vorläufig nicht in Anspruch nehmen u. sehen, wie weit wir ohne sie in Richtung * Scherner vordrängen. E. kam zurück: alles scheine vereinfacht, auf unser in Klotzsche ausgestelltes Papier hatte sie senz altro 1 Billette bis Falkenstein i. V. erhalten. Wir sind dort mit dem Wagen gewesen, über Chemnitz fahrend, es waren von Dresden aus mehr als 100 km. Der Weg über Chemnitz, hatte der Beamte gesagt, sei unterbrochen, wir führen am besten andersherum durch den Sudetengau, erst südlich bis Aussig, dann westlich bis Karlsbad, dann in Nordwendung über Grastig und Zwotenthal nach Falkenstein. Der Erfolg des Billetkaufs stärkte mich ein wenig; sollte es mit * Scherners nicht klappen – vielleicht war er längst tot, apoplektisch genug war er schon in den 30er Jahren gewesen, u. die ganze Kriegszeit über hatte auch * Annemarie nichts von ihm gehört – dann wollten wir weiter nach Bayern. Ziel Schweitenkirchen bei München, wo die Eltern der * Frau Stühler, * * Burkhardts wohnen. Sie kennen uns nicht, wir wissen nichts von ihnen, es ist weniger als der Strohhalm des Ertrinkenden, aber es ist doch eine Verlängerung der Fluchtlinie ... Während wir das besprachen, es war gegen 10 Uhr u. um ½ 2 sollte ein Zug in Richtung Bodenbach gehen, kam Alarm u. gleich danach Vollalarm. Der Keller des Hauses war scheußlich. Tief gelegen mit fester Decke, aber die engste Mausefalle mit nur einem Ausgang u. von Anfang an verdorbenste Luft. Es roch nach Aether u. Abort – eine Schleuse Schleuse soll daran vorbeigeführt sein. * Dressel u. eine Schwester trugen einen hilflosen Mann herunter u. legten ihn auf ein Bett, mehrere Leute wurden verbunden heruntergeführt, andere sahen unbeschädigt aus. Im Ganzen – die Zahl wechselte durch Komen u. Gehen – hielten sich 17–19 Menschen in dem engen stickigen boyau 2 auf. Man hörte Geschwaderbrummen, Stille u. wieder Brumen. Von Zeit zu Zeit kam eine Schwester u. meldete Bruch Bruchstücke der Luftlage. Verbände im Raume Prag, im Raume Dresden–Leipzig, Abflug, neue Geschwader ... Wir saßen geschlagene zwei Stunden, ehe Vorentwarnung kam, * E. litt ungemein unter dem stickigen Gestank. Endlich wieder oben: Wir packten zusamen u. verabschiedeten uns. Auf dem Bahnhof im allgemeinen Getümmel keine Eßmöglichkeit. E. ging in die Stadt u. kaufte ein Brod u. ein Stück Blutwurst. Inzwischen stand ich etwa 40 Minuten allein, auf E s Rat das Gesicht meist der Wand zugekehrt. So oft mich jemand anblickte, dachte ich .. Richtig: als wir zum Bhf. hinübergingen, hatte ein Uoff. E. angesprochen: Sind Sie nicht aus Dresden? Nein[], sagte sie, u. ging weiter. Ihr fiel nachher ein, den jungen Menschen einmal im Restaurant gesehen zu haben. Ich wiederholte mir innerlich immer wieder, alles sei Schicksal, Bombe u. Gestapo. E. kam mit dem Einkauf um 1 Uhr, wir aßen eine Schnitte u. gingen auf den Bahnsteig. Der Zug fuhr fast ohne Verspätung um 13 45 ab. Eine Scheibe des Abteils war zerbrochen – im Kamenzer Zug neulich auch, repariert wird nichts mehr – das kam uns doppelt zugute, denn einmal blieb die Luft genießbar, u. außerdem sah man Landschaftsausschnitte, was durch die ganz verschmierten u. beschlagenen Scheiben kaum möglich war. Erinnerungen: die Elbe, die Formationen der sächs. Schweiz, die Bastei. Bei Rathen das Gewimmel
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