Klemperer, Viktor
mitfahren, wir seien alte Leute, Aussteigen ohne Bahnsteig sei gefährlich .. ich wollte schon aufgeben, aber * E strebte weiter. Am Zuge selber sang der Lokführer oder Zugführer das gleiche Lied komisch verstärkt: Wenn Ihnen was passiert werd ich gehängt – neulich haben sie einem beide Beine abgefahren, da hat der Kollege 40 M. Rente sein Leben lang zu zahlen u. nun bekamen wir die Rente u. das Hängen umschichtig zu hören. Aber als ich alles schon für ganz aussichtslos hielt – wir hatten immerfort protestiert, wir könnten turnen, seien nicht steif, wären in der Schreckensnacht auch geklettert ..., h sagte der Zugführer plötzlich (u. der Capo widersprach nicht), nun seien wir einmal da u. gäben doch keine Ruhe, also sollten wir hereinkomen, aber dies Mitfahren in Güterzügen nehme überhand u. dürfe nicht mehr geduldet werden. Oben im ziemlich fast leeren Gepäckwagen: die alten Leute könnten herauf-, an den Ofen komen. Eine kleine Treppe führte zu einem Oberraum, unmittelbar hinter der Locomotive mit einem Pultbrett über an der vorderen Schmalseite, mit mehreren Stühlen u. einem tüchtig geheizten Eisenofen. Der brummige Führer arbeitete am Pult zusamen mit einer lockenwuschligen behosten Schaffnerin irgendwelche Frachtbriefe durch. E. stand saß saß in der Ofenecke. Auf den Stufen u. im Eingang standen Soldaten. Nachher kam noch weiteres Personal – (Die Schaffnerin erinnert mich an eine Gestalt der Nachtfahrt, ein Flintenweib, alias eine Flakhelferin, die in ein Lager fuhr. Der Ton, das Geknutsche, die Promiscuität – Lagerdirne, * Wallensteins Lager weit übertroffen, * Tages Arbeit, Abends Gäste 1 ...) – Manchmal wurde gebrumt, der Raum sei zu eng, dann stieg ich in den Gepäckraum hinunter, eine Weile später wärmte man sich wieder oben. Ein alter Beamter war aus Ostpreußen vertrieben – überall in x Varianten die gleichen Schicksale: ausgebombt, vertrieben oder beides oder in umgekehrter Reihenfolge. Und: Sie hätten sehen müssen, wie die Leichen in Dresden herumlagen – Bei uns in Braunschweig hingen die Fetzen an den Bäumen etc. etc. – Es ging langsam, aber doch schneller als im Personenzug, durch den verschneiten Hochwald u. über kahle Kuppe – Kipsdorf, Schellerhau variiert. Auf mehreren Stationen wurde geladen u. rangiert. Einmal wurden vom Güterschuppen aus eine Menge Kartons, Knorr-Sternchen[,] durch Kette in den Waggon befördert, wie ich das von meiner Fabrikzeit her kannte. Ich wollte mich wie die Soldaten beteiligen, aber: Wehrmacht darf, Civilisten nicht – wenn Sie sich einen Bruch holen! .. Zweimal mußten wir während des Rangierens aussteigen, in den tiefen Schnee hinunter (in unsern Halbschuhen!) Einmal hörten wir in weiter Ferne kleinen Alarm. Aber wir kamen friedlich hinter der stampfenden Lokomotive her um 1 Uhr nach Falkenstein, hielten ziemlich im Freien, wurden von den Beamten hereingeführt u. landeten im Wartesaal bei einer Reissuppe. Eine einfache Frau am Tisch gab uns gleich Auskunft über * * Scherners Privatwohnung. Er sei ein so guter Mann, vor ein paar Jahren habe er zwar einen bösen Schlaganfall gehabt u. in ein Sanatorium gemußt, aber jetzt gehe es wieder. Als wir dann der Stadt zu mit unserm Gepäck schlichen – Winterbild, Schnee u. Glätte –, rief uns eine Frau an, ihr Handschlitten sei leer, ich möge aufladen. Das tat ich u. zog mit. Auch sie sang sofort Scherners Lob: da werden Sie gut aufgehoben sein!
Donnerstag Vorm 8 März 45. Falkenstein, Marienapotheke .
Am Vorstehenden notierte ich gestern den ganzen Tag u. heute früh. Mit einiger Selbstüberwindung u. Pedanterie, denn es ist so wenig Hoffnung, daß ich überlebe, u. noch viel weniger Hoffnung, daß meine Mss in Pirna überleben. Die Vernichtung geht immerfort weiter, Tag u. Nacht.
In * * Sch s Wohnung öffnete eine ältere Dame, sehr liebenswürdig u. sofort im Bild: Wo eine Schwester Trude Sch. s. Wir ließen unser Gepäck im Corridor u. gingen zur Apotheke. Freundlich behutsame Aufnahme durch weibliche * Angestellte, bis drei Uhr müsse der Chef schlafen – es war ½ 3. Wir saßen im Zwischenraum zwischen Privatcontor u. Laden. Nach einer Weile steckte Muttchen 2 den Kopf heraus, erkannte mich – erstaunteste Begrüßung. Hans Sch. erhob sich sehr mühsam vom Sopha. Ein übermäßig dickes Wrack, schwerfällig in jeder Bewegung, immer einen dicken Stock in der Hand, meist – auf der Straße immer – geleitet. Aber doch in vielem der Alte.
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