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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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Ungemein herzlich, betulich, vital, innerlich ganz offenbar zufrieden. Dabei aber auch wieder nicht nur gleichmütig sondern gleichgültig, stumpf, den Dingen keinen übermäßigen Wert beimessend. Von sich selber: ja, 1940 habe er den Schlaganfall gehabt, aber dann Tölz u. noch irgendeine Kur, u. nun gehe es wieder, auch mit dem Arm, u. vieles sei offenbar auch nur auf die Gicht u. das Rheuma zu schieben .. Büblein 3 ? – der ist doch tot, schon vor fünf Jahren, perniciöse Anämie, 54 geworden .. * Harms 4 ? Immer noch, als Achtziger, Leitartikler, sehr sehr nazistisch – Gott, er muß doch sein Brod haben, u. vielleicht glaubt er es auch. Scherner selbst trägt den Parteiknopf u. im Privatcontor hängt das * Hitlerbild, u. Ihr müßt vorsichtig sein,meine kleine * Helferin, 5 ein gutes reizendes Mädchen, aber sie ist doch so erzogen ... usw. usw. Unsere eigene Geschichte wird mit Rührung u. Abscheu, aber doch auch wieder mit einiger Abgestumpftheit aufgenomen. Vielleicht aber ist die Stumpfheit nur das Nichtwissen, das Sichnichtvorstellenkönnen. Denn die gleiche Stumpfheit herrscht der ständigen Bombengefahr gegenüber. In den Keller? Noch nie. Unten stehen ja Benzinfässer, auch ist der Ausgang schlecht. Wir schlafen immer. .. Zur Gleichgültigkeit trat aber immer wieder die Herzlichkeit, die Freude. ( Zwischendurch wickelte sich immerfort der rasende Geschäftsverkehr ab. Ich bin seit 5 Jahren ganz schuldenfrei, ich habe einen Jahresumsatz von 250 000 M.[,] ich habe 9 Angestellte, darunter zwei approbierte Apothekerinnen, ich zahle 50 000 M Steuer u. im Monat 2 000 M. Gehälter .. Natürlich bringen wir Euch unter, es wird uns schon einfallen, wie. Zuhaus mußten wir ein Zimmer an einen Berliner Ingenieur vermieten, dann ist Muttchens Schwester da, dann wird * Norma Schingnitz 1 mit 3 Kindern erwartet. ( * Schingnitz? – Ach von dem Nazi hat sie sich scheiden lassen, sie ist die Frau eines Leipziger * Arztes, durchaus antinazistisch) .. Nach einer Weile – Muttchen hatte uns etwas Tee gemacht – steckte er wieder den Kopf herein: Ihr werdet hier im Privatcontor auf den beiden Sophas wohnen schlafen. Um 8 Uhr früh müßt Ihr es räumen; tagüber habt Ihr das Nachtdienstzimmer oben. So ist es denn auch geworden, u. so hausen wir, fast schon eingewöhnt. Irgendwelch Bettzeug haben wir nicht, nur das Sophakissen. Aber das Contor ist mit elektrischem Ofen warm geheizt, u. wir[ d ] decken uns mit Mantel bzw. Pelz zu. Ich friere ein bisschen an den Füßen – helf er sich! Gewaschen wird sich im Raum hinter dem Laden oder in der großen Laborküche. Dort macht uns * Eva auch Frühstück u. Abendbrod, d.h. Brombeertee für sich, Zuckerwasser für mich. (Wenn es nur heiß ist! ich bin so qualvoll erkältet.) Dazu essen wir Brod, in knappster Ration. Das Essen ist der dunkelste Punkt u. die größte Enttäuschung hier. Von * Scherners alter Esslust u. Gastlichkeit im Punkte des Essens ist weniger als nichts geblieben. Er scheint durch sein Leiden gehemt, * sie ist wirtschaftsüberhäuft; da sie Tauschmittel in der Hand haben, werden sie wohl auch dies u. jenes nebenbei bekomen u. so von der eigentlichen Not ebensowenig wissen wie von dem Bombenschrecken. Jedenfalls: im striktesten Gegensatz zu ihrer Herzlichkeit u. Bereitwilligkeit in allen andern Punkten überlassen sie uns dem buchstäblichen Hunger. Dem buchstäblichsten all dieser Jahre. In Piskowitz war Schlaraffenland, in Dresden ging es zuletzt sehr knapp zu –, aber wir halluzinieren unsere dortigen Mahlzeiten, jedes Essen ist hier in seiner Knappheit eine Qual, ich bin noch in keinem Augenblick wirklich satt gewesen. Der Nachmittagskaffee fällt fort. Morgen u. Abend beschrieb ich schon; dabei zählt man sich die Schnitten zu, denn auf Karte gibt es jetzt ½
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pro Kopf u. Tag. Haupthoffnung war die Restaurantmahlzeit, der markenlose Stamm: Den gibt es nicht mehr. Ihr bekomt alles im Schützenhaus, sagte Scherner. Dort ging es zu wie während der Inflationszeit auf den Banken. Man wurde nicht nur abgewiesen, sondern mit Anschnauzer abgewiesen. Volksgemeinschaft? Ausgebombt? Flüchtling? Das alles hat gar keinen Wert mehr. Falkenstein hat normal 18 000 Einwohner, jetzt mit all den Flüchtlingen 36 000, u. die Belieferung wird immer schlechter, je mehr Schäden im übrigen Sachsen entstehen. Wir wurden dann gestern Vorm. ins Café Meyer geführt einem Lokal in Scherners Wohnhaus, einer ehemaligen Bank am Rathausplatz. Zwergportion gegen Marken,

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