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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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Marken für alles, insbesondere für Kartoffeln, übrigens auch nicht billig, eine Mark auf den Kopf. Hunger vom Morgen zum Abend, u. jede Mahlzeit drängt ihn bloß ein klein wenig zurück u. auf wenige Minuten.
    Noch während wir beim Thee saßen – senz altro, 2 senz altro, u. jetzt gähnt die Kluft zwischen Mittag u. Abend, zwischen ½ 1 u. 8 völlig unausgefüllt – kam die Omi, eine Frau * Frau Dr Koch, mit der man intim war, die Mutter eines hiesigen * Arztes, der jetzt in Lorient steckt, u. einer Tochter * Apothekerin irgendwo in Mitteldeutschland. Die alte (d.h. genau uns gleichaltrige) Dame verabschiedete sich vor einer Reise irgendwohin u. blieb zu freundschaftlichen Gesprächen mehrere Stunden. Unter dem * Hitlerbild wurden die hanebüchensten Reden gegen den Führer u. die Partei u. den Krieg geführt. * * Scherners waren selig u. wir auch. Sobald der Besuch fort war, brachen dann Scherners auf u. überließen uns unserem Unterschlupf u. unserm Hunger. Wir aßen kümmerlichst u. schliefen dann gleich, merkwürdigerweise Alarm-verschont. –
    Der Mittwoch begann für mich beim Friseur (auch wieder tötliche Überschreitung einer Gestapovorschrift). Der Laden war leer – seltsame Ausnahme! – doch mußte ich mich einem halbwüchsigen Jungen anvertrauen. Er machte seine Sache buchstäblich kurz u. gut . Dann suchten wir das Schützenhaus auf, s. o. Beim Rückweg kam ein Mann entgegen u rief jedem einzelnen Passanten zu: Fliegeralarm! Wir traten in die nahe Apotheke; Scherner erklärte gleichmütig, es kome öfter vor, daß der Strom fehle, dann könnten die Sirenen nicht in Gang gesetzt werden. Und wie werde dann das Ende des Alarms bekannt? Wenn sich die Straßen wieder beleben ... Nach einiger Zeit kamen denn auch Leute wieder zum Vorschein. – Es war verabredet, daß wir um 6 h Nachm. wieder ins Privatcontor unten einziehen sollten. Wir gingen hinunter, recht durchfroren, denn der Eisenofen hier oben hält nicht vor. Übrigens ist hier oben keineswegs das verbaute Dachkämerchen, das ich von Vater * Storz, 1 von der Börsenapotheke in Leipzig in Erinnerung habe, sondern ein stattliches zweifenstriges Zimmer mit Bett, mit zwei Schränken, einem Schreibtisch u. mehrere[n] Stühlen, die Mauern interessant getüncht: graublaue Fenstervierecke in knallblauen Umrahmungen, die gelbe crèmefarbene Blütenornamente in sich tragen. Leider hält der kleine Eisenofen hier nur kurze Zeit Wärme. – Wir kamen also (ich hatte geschrieben) ziemlich erfroren nach unten. Da war wieder Besuch, u. es scheint als sei um diese Zeit dort immer Besuch. Einmal praedilekteste Kunden 2 – die gemeinen Leute drängen sich im Laden, die intimeren komen hinten ins Labor, die intimsten zu Sch s ins Privatcontor. Mit wem aber ist Sch. hier nicht intim u. intimst? Er verarztet in leichteren Fällen, er überweist in schwereren an den u. jenen Arzt. Die Concurrenzapotheke kann nicht mit; der Besitzer ist abwesend, ihr Verwalter säuft. Und Sch. betrachtet sich als den Vater u. Fürsorger der Stadt. Im Betrieb selbst ist er mehr Empfangschef als Apotheker, er ist aber ununterbrochen als Aufseher tätig. Was seinen Besuch anlangt, so ist Sch. jetzt besonders in Anspruch genomen u. besonders glücklich: die Vertriebenen aus Schlesien, seine Landsleute suchen ihn auf. Wir erlebten eine seltsame u. charakteristische Scene. Ein mittelalterliches * Ehepaar, * Dr Krömer aus Oppeln – Verlust des Besitzes, er hier am Versorgungsamt in Dienst gestellt. Beide Eheleute, besonders sie, schwer verbittert u. pessimistisch-defaitistisch. Nun das gegenseitige Sichabtasten, die Angst, der andere könnte Nazi sein, der Wunsch sich Luft zu machen. Ich sprach der Frau Mut zu. Sie: worauf solle man noch hoffen, die Greuel der Landstraßenflucht, der Massenquartiere, u. wo sei bessere Zeit, wo erfülltes Versprechen zu erwarten? Ich in Anführungsstrichen man dürfe keine Kritik machen. Sie, die Anführungsstriche überhörend, halb wütend, halb angstvoll, sie habe keine Kritik geübt u. nur gesagt, was wahr sei. Ich, um ihr Mut zu machen, citierte: []Eh ick mir hängen lasse, jloob ick an n Sieg. Da fanden wir uns gleich. Die Aussichtslosigkeit, das Verbrechen des Weiterkämpfens, die Sehnsucht nach baldigem Schluß .. Krömer citierte ein seltsames * Hitlerwort, das allgemein verbreitet sei und Unruhe schaffe: der Allmächtige möge ihm die zwei, drei letzten Tage dieses Krieges verzeihen. Wir deuteten das auf den Plan eines Gasangriffes. Mir fiel

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