Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
Vom Netzwerk:
Schein ohne nochmalige Unterschrift des ADCA-Wirtes abgeben können, ferner ob man mich vom Arbeitsamt verlangt. * E. will jetzt bald zum Rathaus. – Sch. brachte die Leipziger NN ( ein Blatt, zwei Seiten) vom Freitag mit dem Heeresbericht vom Donnerstag: Köln ist genomen, aber der Rhein noch nicht überschritten; Lauban ist befreit, aber Graudenz gefallen – es ist nicht abzusehen, wie lange noch. Grausig die zusamengefaßten Berichte über die Tag- u. Nachtangriffe der Entente. Mehrere Städte ... weitere Städte, besonders ... Das Chaos u die Not müssen stündlich wachsen. Aber wie lange noch? Die Leipziger NN haben einen Artikel: Die Besetzung Kölns – ein ruhmloser [‹]Sieg[›] der Angelsachsen. Das sei nicht kriegsentscheidend, nur vorübergehend. Erst müßten wir die Steppenvölker Innerasiens aus den deutschen Ostprovinzen vertreiben, dann würde das linke Rheinufer zurückgeholt. Es klingt wahnsinnig – aber vorderhand wird doch wirklich überall weitergekämpft, u. Lauban ist tatsächlich befreit. Wir zwei können nicht mehr lange warten.
    Secundo loco quält der fürchterliche Hunger. Nie im Leben haben wir so gehungert. Ich denke mit Sehnsucht daran, wie uns * Scherners im ersten Weltkrieg halfen, wie wir im Keller der Börsenapotheke bei Schnäpsen saßen, wie er für sich u. uns Essen herangeschafft. Jetzt dagegen .. Dabei ist er rührend in seiner Besorgtheit, Geschäftigkeit, Hilflosigkeit. Der rechte Arm ist gelähmt, die Hand hängt meist weich u. gespreizt (doch kann er schreiben). Wie ein Kind wird er beim Gehen u. Komen an- u. aus- u. umgezogen. * Ullmännchen ist seine Privatsekretärin u. fast Schwester. Sie zieht ihm bei währendem Glatteis grüne Socken wie zum Gletscherübergang über die Stiefel. Bei aller Schwerfälligkeit ist er immerzu in Aktion, gehend, Treppe steigend, stehend, im Gespräch mit d Leuten, immer den schweren Stock in der gesunden Hand, die Pelzmütze auf dem kahlen Schädel ziemlich tief im runden bartlosen katholischen Gesicht, den weißen Apothekermantel prall über dem breiten dicken sich wälzenden Körper. (Am Mantel nur den Knopf der Apothekerfachschaft, am Jackett den Parteiknopf u. das Hindenburgbändchen der Kriegsteilnahme von 1914/18 – wo er nie an der Front war.)
    Dritte Not neben Todesangst u. Hunger ist das Frieren. Das Eisenöfchen hier oben schafft es nicht. Von gestern zu heute scheint es zwar die ganze Nacht getaut zu haben, aber unten liegt doch noch viel schwärzlicher vereister Schnee, man sieht noch immer hauptsächlich Schlitten (Hand- u. Pferdeschlitten), daneben Räderwagen, bei denen ein Paar Räder auf Kufen gesetzt sind. Wir sind eben doch in einem Gebirgsnest, 650–700 m. hoch. Würde der Boden ein klein wenig besser, dann könnten wir die Umgegend erforschen, aber so sind wir gefangen. Wirklich gefangen. Gestern getrauten wir uns nicht in den Besuchstrubel hinunter, ließen uns erst um 7 h sehen, als Muttchen schon fort war. Wir aßen dann total erschöpft unsere paar Schnitten, warteten nur den üblichen Alarm ab, der dann auch um ½ 10 kam u. nach 40 Minuten abgeblasen wurde ohne in Vollalarm ausgeartet zu sein, u. legten uns schlafen. * E., sehr elend (u. immer blasser u. magerer) hatte schon vorher auf ihrem Sopha geschlafen. – Seit wir aus Piskowitz fort sind, ist es uns eigentlich täglich trostloser ergangen.
    * Sch. berichtete gestern: die eigentliche Bezirksgestapo residiere in Plauen; hier hielten sich, aus Schlesien herverlegt, 60 Volksschädlingsbekämpfer auf, vermutlich eine Gruppe von Beobachtern, Spionen, Spitzeln, Polizeihunden nach rebellischen Flüchtlingen u. Deserteuren stöbernd. In Falkenstein, sagte Sch., seien die Gegensätze schroff, starker Nazismus u. starker Antinazismus; die Auseinandersetzung werde blutig werden. –
    Wenn ich schildern könnte! Dieses Hausen in der Apotheke. Vorn der immer überfüllte Laden, der Zwischenraum zum Privatcontor hinten durch Regale geteilt, halb Labor, halb Waarenlager – aber Warenlager ist hier alles, gestopftestes, auch das Privatcontor (unser Schlafraum) selber, ein eng wirkendes aber fraglos großes Zimmer; es enthält ja zwei Sophas, einen großen Schreibtisch, einen nicht kleinen Rundtisch, dazu Schränke u. Regale en masse – alles das beladen mit Büchern, Mappen, Papieren, Medikamenten in Schachteln u. Flaschen. Zwischen Privatcontor u. dem Hausflur die große Apothekerküche mit ihrem Gewirr von Retorten, Flaschen, Glas- u. Porzellangefäßen alter

Weitere Kostenlose Bücher