Klemperer, Viktor
Briefkopf: ein Vorort Berlins, Leitartikler der Leipziger NN, Weihnachten 44. (Mir ist eingefallen, Harms ist fast gleichaltrig mit * Georg, also doch 80 Jahre). Er habe ein Opus, sein letztes Wort beinahe fertig u. wolle nach Möglichkeit das Ms. * Scherner zukomen lassen. Es sei eine kleine Ethik bei * Kantischer Ungewißheit über Gott. Das Höchste sei die Volksgemeinschaft, denn auf sein Volk Volk sei man beschränkt, u. ihm selber sei höchster Ausdruck dieser Volksgemeinschaft die NSV. – Das ist doch der Milchbrei eines kindisch Gewordenen. Aber 1933 wird Harms doch noch nicht ganz so kindisch gewesen sein, u. in seiner Position muß er doch, er muß gewußt haben, was sich damals u. dann weiter u. immer gräßlicher abspielte. Und er war nicht gezwungen, das zu unterstützen. Er war alt u. wohlhabend genug in Pension zu gehen ...Scherners begreifen meinen Abscheu nicht. Sie sind mit H. mindestens ebenso befreundet wie mit uns.
Dabei wissen sie um tausend Morde, warten auf den Sturz der Regierung, tun ihr Möglichstes, um mich zu retten. –
Um 8 hörten wir den deutschen, um 9 also etwas vom USA-Bericht. Danach sind die Gegner bei Remagen über den Rhein u. schieben Truppen in den Brückenkopf nach, den die Deutschen abgeriegelt haben. Im Osten scheinen die Deutschen kleine Vorteile zu haben. Die Terrorangriffe hageln auf alle deutschen Gebiete .. Während wir hörten, kurz nach 9, kam wieder Alarm u. diesmal Vollalarm . Es wurde nicht in den Keller gegangen, dafür die Luftlage, von Plauen her, eingestellt. Erst nach langem Warten kam eine Ansage durch: Fünfte Meldung: Der schnelle Kampfverband ist im Abflug nach Westen, Entwarnung folgt bald. Die Entwarnung kam etwa um ¾ 10. * Sch. nahm das Ganze wieder für ein harmloses Intermezzo, er versicherte mir gleichmütig, in einem Vierteljahr werde das vorbei sein, er begriff nicht, daß mir ein Vierteljahr wie ein Todesurteil klang, er stellte sich wohl auch kaum vor, wieviel Blut u. Zerstörung es keine 50 km von uns entfernt wieder gesetzt habe, während wir in den Polstersesseln warteten. –
Wir patschten durch die dunkle Nacht zurück, nachhause. * Trude Sch. hat uns zwei Laken gegeben, das * Ullmännchen hat ein Bettzeug herangeschafft; jetzt schläft * E. unter ihrem Pelz, ich unter der Bettdecke – so sind wir schon etwas comfortiger. Der Nachtdienst hat auf eine Woche sein Ende – so sind wir Alleinherren. Dafür ist der eigentliche Apothekenraum u. mit ihm eine Waschgelegenheit über Sonntag abgeschlossen. Aber in der Laborküche herrschen wir unbeschränkt. Es hängen u. stehen dort in verschiedenen Größen merkwürdige schwere Emaillegefäße: Halbkugeln mit zwei Henkeln. Aus dem größten habe ich mich von Kopf zu Fuß abgeklatscht. Das letztemal tat ich das in * Agnes Küche vor 14 Tagen, bei abgeriegelter Tür. Als ich nackt u. naß stand, kam der nette einquartierte Bayer, u. riß an der Tür, daß sie trotz des Riegels aufging, erschrak u. entschuldigte sich .. Ich rasierte mich auch (mit dem Piskowitzer Rasierzeug u. ohne Spiegel) – ich bin heute ganz fein u. sauber. (Und wer wird bis zum nächsten, nicht vorhandenen Hemde denken? Vielleicht bin ich vorher tot, vielleicht ist vorher eine Wendung da.) Wir frühstückten: Kaffee, richtigen Ersatzkaffee, dazu E. Brod mit einem bißchen Butter, u. ich Brod mit Salz. Dann schlief E. vor Abspannung auf dem Sopha, u. ich machte mich ans Schreiben. – – Manchmal geht mir durch den Sinn: kein Roman kann phantastischer sein als unser Leben jetzt. Ich lasse mich treiben. Nur, absolut nur E. s Energie hält mich. Wenn ich nur eine Minute allein bin, fühle ich mich verlassen u. hilflos. –
15 h * * Schillerroman vorgelesen u. danach um 12 zu Tisch, durch den kalten Taumatsch. Ein schwerer Armek Armeekamion mit scheckiger Fliegerplane u. ein paar Tännchen cachiert. Diesen Fliegerschutz sah ich schon öfter. Auch an den Maschinen der Züge. Aber habe ich denn in der Beschreibung unserer Fahrt den ungeheuren Funkenregen erwähnt, den die Maschinen wie ein Feuerwerk ausstießen, wie eine Sternschleppe hinter sich zogen? Es war ein Funkenregen wie in der Katstrophennacht am 13. II. auf der Brühlterrasse. Ursache offenbar das schlechte Heizmaterial u. also unbehebbar. Aber das war vor 8 Tagen der Fall, u. die Züge fahren noch immer, trotz dieses Materials u. trotz der so zunichtegemachten Fliegerdeckung. Und als wir vorhin das Haus verließen, spielte ein Radio nebenan große Musik. Ich
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