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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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zu * * Sch s zu gehen, da kam Voralarm, begann 16 50 , endete, ohne Voll-A. zu werden, 17 40 . Eine ganz ungewohnte Zwischenzeit entre chien et loup, entre Américain et Anglais. 1 Nach einigem Zögern gingen wir trotzdem, die Straße war auch stark belebt. Wir waren dann bis gegen 10 h Abends Sch s Gäste. Ihr Wohnzimmer war diesmal geheizt, man saß gemütlich. Gegen das zweite Zimmer, das ihnen außer dem Schlafzimmer geblieben, u. gegen den vermieteten Teil war abgedichtet, man saß also nicht nur warm sondern auch gegen Hörer geschützt. Und das war sehr nötig, denn mit Hans muß man schreien.
    Freilich frage ich mich immer wieder, welchen Zweck es hat, ihm etwas zuzuschreien – er begreift nicht. Es bleibt absolut rätselhaft, wie weit er noch normal denkt u. lebt, wieweit er kindisch u. tot ist. Die Mischung aus Anteilnahme, Zärtlichkeit – * Eva wird immer wieder geküßt, ich entziehe mich dem Küssen, aber das Händedrücken nimmt kein Ende – u. totaler Gleichgültigkeit frappiert, betäubt geradezu. Er sieht nicht, welches Grauen um ihn herum ist, er sagt wohl einmal, die Lumpen u. wer wird sie beseitigen?!, aber meistens lacht er vergnügt überheblich über diese dummen Kerle, diesen ungebildeten, diesen blöden * Hitler. Das Ganze ist ihm ein übler Spaß, den man nicht allzu ernst nehmen darf, u. der sub specie aeterni 1 schon erledigt, der nichtig ist. Dabei scheint dieser körperlich hilflose, seelisch betäubte Mensch der genaueste, kleinlichste, treiberischste Chef seines Ladens zu sein. Und seine Zärtlichkeit? Er hat sie für 100 Leute, sie ist dilatiert 2 ... Besonders kindisch erschien er mir, als * Trude Sch um 9 h den amerikan Sender suchte u. leise einstellte. Sie u. E. standen vor dem Apparat, horchten aufs gespannteste. * Sch. mußte wissen, wieviel uns beiden auf Nachrichten ankomt, wie unser Leben daran hängt. Trude flehte den Mann an, sich eine Minute ruhig zu verhalten, sie bat ihn immer wieder darum, man merkte, daß diese Scene nicht zum erstenmal spielte, man merkte, wie schwer die Frau sich beherrschte, sie stöhnte: ich kann es nicht durchsetzen – es ist mit ihm nicht zu machen. Er war keine Sekunde still, er war wie ein blödsinniges Geschöpf, er redete, er schlich mit seinen schweren Schritten herum, er brummte, er setzte sich knarrend, stand knarrend auf, er las mir etwas vor – es war jammervoll. Das interessierte ihn nicht, das ist ja doch bloß Schwindel. Aber der deutsche Heeresbericht, die Zeitung, Geographie – er hat keine Karte der Umgebung – u. tausend andere Sachen sind ihm ebenso gleichgültig. Hunger? Man muß ihn sich abgewöhnen. Er, der einst so freßgierige u. freßmächtige braucht offenbar nur noch geringste Nahrungsaufnahme; so hat er kein Gefühl für den Hunger der andern. Wir aßen gegen 8 zusamen. Wir hatten unser Brod mitgebracht; Scherners hatten für sich so wenige u. so winzige Wurstbemmchen, daß ich vom Zu Ansehen hungrig wurde. Außerdem, u. hiervon bekamen wir ein Tellerchen ab, ein Minimum Kartoffel- u. Rübensalat u. irgendeinen dünnen Kräutertee. Die Schwester aß eine Schnitte von ihrem eigenen Brod. (Wir führen getremte getrennte Wirtschaft) Die Schwester ist Trudes Stiefschwester, unverheiratet, 67 Jahre (Trude 59, Hans 64) rotes Haar, zwinkernde Äugchen, irgendwie fuchsig, schlau, gutmütig, beweglich, sehr höflich, ein bisschen zu dienstbeflissen, von Trude wohl einigermaßen in dienende Rolle gedrückt. Sie war 20 Jahre in Oppeln ansässig, Schwester u. Pflegerin für Verblödete, halbwegs in * Lissy Meyerhofs Beruf, 3 hat alles in der zerstörten Stadt verloren. Von ihrer Vollschwester, die wir vor langen Jahren einmal kennen gelernt, ist Trude ohne Nachricht. Die sitzt mit ihrem Mann, Tierarzt in höherer Beamtenstellung, im eingeschlossenen Königsberg. Von diesen Leuten erzählte * Trude Charakteristisches. Sie fürchten nichts so sehr als die Russen. Nur denen nicht in die Hände fallen! Sie wollen lieber selbst ein Ende machen. Die Schwester schrieb zuletzt: Für den schlimmsten Fall haben wir noch unsern Revolver. –
    Wir sprachen heute beim Frühstück darüber: der Heroismus, der Zusamenhalt des Volkes, sein unfaßlicher Widerstand sind nichts als doppelte Angst: Angst vor Galgen u. Kugel der Gestapo u.u. Angst vor den Russen. Die ununterbrochenen Greuel- u. Schändungsberichte der Presse u. des Radios sind wirkungsvollste Propaganda, haltbarster Kitt.
    Ein Brief von * Paul Harms wurde vorgelesen. Adresse

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