Klemperer, Viktor
Bequemlichkeit u. Gleichgültigkeit. Was ihn ausfüllt, ist seine Apotheke, als kaufmännisches Unternehmen so gut wie als Bevaterung u. Bedokterung der Menschheit, u. das Himmelreich – die Zonen dazwischen interessieren ihn kaum. (Ein Brief, den er mir zeigte: Kohlenhandlung Alfred Dressel. Sehr geehrter Herr Doctor, ich bin auf dem Glatteis gestürzt und habe eine schmerzende faustgroße Beule am Gesäß. Ärzte u. Apotheken sind so überlaufen, daß ich unmöglich anstehen kann. Ich vertraue Ihrer reichen Erfahrung u. bitte Sie mit bestem Dank im Voraus um ein Medikament, das ich mir abholen lassen werde. Wir kennen uns persönlich, wir haben ein paarmal über Tölz geplaudert. Heil * Hitler! * Adolf Dressel. – Ich citiere aus dem Gedächtnis aber bestimmt ziemlich wortgetreu. Scherner strahlend: solche Briefe bekomme er! – Was tust du? – Er kriegt natürlich essigsaure Tonerde!)
Gestern Abend ¾ 9–10 10 Kleiner Alarm, sonst Stille. Es scheint Regel mit geringsten Ausnahmen, daß 2 x täglich Alarm komt, amerikanischer Tag- u. engl. Nachtalarm. Falkenstein muß an einer Ein constanten Einflugslinie liegen. Und die Leute hier vertrauen auf das bloße Überflogenwerden. – Falkenstein fühlt sich offenbar auch sonst als Durchgangsort, denn überall stehen die in die Ferne weisenden Schilder des Autoverkehrs: nach Plauen 21 km, nach Zwickau .. etc. Widerum ist es doch eine Stadt und mit 18 000 gar nicht so winzig. Und so wird es wohl auch seine Gestapo haben. Heil Hitler hört man hier, im Gegensatz zu Dresden, beinahe ausschließlich als Gruß. Es wimmelt vom Volkssturm in verschiedenen Uniformen aber zusamengehalten durch eine schwarz-rote (?) Armbinde mit Aufdruck. – * E hat sich wieder in die Glätte hinausgewagt – ich weiß nicht, was sie erkunden oder welche Schritte sie unternehmen will. Ich sitze im Wintermantel, denn das Zimmer ist ungeheizt.
Ich begann gestern den * Schiller-Roman von * Molo 1 vorzulesen, im Internationalen Juden von * Ford zu blättern u. * Robert Wilbrandts * Marx für mich zu lesen. Alles besser als über Todesgedanken zu brüten.
Abends 19 30 Nach wie vor tötliche Ungewißheit der Situation. Die Anmeldescheine wurden uns vom Hauswirt unterschrieben zurückgegeben. Nach Besprechung mit * Scherner lieferten wir sie aber nicht ab. E. besorgte neue Exemplare, auf denen wir als Aufenthalt vor Piskowitz statt Dresden Landsberg angeben sollen – eine kleine Verschleierung. Es bleibt aber fraglich, ob man diese Anmeldung dann ohne die Wirtsunterschrift annimt. Weiter: es muß besondere Zuzugsgenehmigung[], auch für Besucher, erteilt werden. Ich sagt[e], die bekämen wir, da er ja von seinem Wohnraum an uns abgebe. Dagegen ist fraglich, ob nicht das Arbeitsamt Ansprüche an mich stellt. Wir wissen nicht, ob die Altersgrenze bei 60 oder 65 Jahren liegt. Und jedes Zusamentreffen mit Behörden bedeutet für mich eben Todesgefahr. –
Der Tag verlief trostlos. Quälerischster Hunger. Morgens 3 Schnitten trockenes Brod zu heißem Süßstoffwasser; das Mittag gegen 1 h absolut unzulänglich bei doppeltem Markenverbrauch, u. jetzt um ½ 8 steht [Gestrichenes nicht lesbar] bei mörderischem Hunger die Wiederholung des Frühstücks bevor. Aber ich darf nicht klagen. * E. sieht ungleich elender aus als ich, hier steht eine Wa[a]ge: E wiegt 100 Pfund, ich 130. – Zum Hunger tritt das ständige Frieren. Der Eisenofen oben gibt für eine halbe Stunde Wärme, für mehr nicht. Herunter konnten wir erst um 7 Uhr, so groß war der Betrieb. Jetzt also genieße ich etwas Wärme; aber in der Nacht unter meinem Mantel habe ich die Wahl an den Beinen oder am Oberkörper zu frösteln, oder mich zusamengekrümmt steif zu liegen. Ich bin sehr mürbe u. müde, u. die Hoffnung auf Überleben sinkt ständig. –
Ich ging am Nachmittag den halben * Wilbrandt- * Marx durch. Mit sehr geringem Erfolg – Philosophie ist mir nun einmal verschlossen. Nur ein bißchen Menschliches u. Allgemeines profitierte ich.
Sonnabend 10. III Falkenstein
Vorm. 9 h . Ich sehe uns immer noch bei Brüx im Zug in Leuchtkugelhelle geduckt auf die Bombe wartend. Genau so fühle ich mich seit gestern immerfort. Die Anmeldeaffaire schwebt. Schwersten Herzens schrieb ich Landsberg statt Dresden. (Es geht in einem hin, alles übrige, schon der Haarschnitt beim Friseur, brächte mir ja auch schon den Tod. Ich habe * Scherner für alle Fälle um Veronal gebeten. Er zögert noch. Es wird sich darum handeln, ob wir den
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