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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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hätte? Ich sagte, ja es solle allerlei solche Falschsendungen geben, man dürfe nicht jedem Bericht Gerücht trauen, müsse die Nerven behalten, die Zähne zusamenbeißen .. Ja, meinte sie, andere erzählten ja auch, wir hätten einige Städte in Schlesien zurückerobert ... Aber die Flieger heute Nacht seien wieder überall gewesen, in bei Dresden, Leipzig, Berlin .. u. einmal kämen wir in Falkenstein auch an die Reihe, sie rechne jeden Tag damit. Als sie neulich hier zwei Tage lang keinen Alarm hatten, habe es geheißen, jetzt sei das neue (erhoffte, angedeutete, versprochene) Mittel gegen die Terrorflieger in Gebrauch, aber ...
    Am Vormittag, während * E. Lebensmittelkarten besorgte, schrieb ich ich hier bis gegen 11, dann ging ich wie verabredet in * Sch s Privatwohnung, wo ich E. schon antraf. * Trude Scherner erzählte, wie schwer u. fast tötlich Sch s Schlaganfall im Jahre 40 gewesen. Er war lange ohne Sprache u. Bewegung, wochenlang, er hatte das Gedächtnis verloren – dabei sei er immer vergnügt gewesen. Er sei jetzt geistig wieder ganz agil, aber er überarbeite sich ständig, die ganze Kassenführung, alles Geschäftliche liege auf ihm, er überwache streng mit vielem Schimpfen den ganzen Betrieb, er würde ihn nie an einen Verwalter abgeben, er gehe darin auf.
    Er kome nicht mehr zu wissenschaftlicher Leküre, habe aber noch immer alles Interesse daran. Das scheint zu stimmen, denn heute morgen erzählte er uns stolz, wieviel er für das Geistige in Falkenstein getan habe. Er wollte zuerst eine * Kantgesellschaft gründen; man sagte ihm: mit einem Skatverein sei mehr anzufangen. Er fühlte sich von dem terra terra 1 des vorhandenen Akademikervereins abgestoßen. Er habe dann auf eigene Faust eine Gruppe von geistigen Menschen zusamengebracht u. unter ihnen erzieherisch gewirkt; man habe sich von Zeit zu Zeit Vorträge über philologische u. philosophische Themen gehalten, u. ganz sei dies selbst jetzt nicht eingeschlafen .. Ich will sehen, ihn darüber noch weiter zum Sprechen zu bringen .. Wir saßen im gut eingerichteten aber eiskalten Zimmer, u. ich ging Sch s Bücherschrank durch, um mir Lektüre heranzuschaffen. Ein tolle Bibliothek! Auf der einen Seite gediegenste Philosophie, ungleich mehr Philosophie als Literatur u. Lit.gesch.; auf der andern Seite, was er offenbar anschaffen mußte: Standard- u. Prachtwerke des Natsoc.: Geschichte der Partei, Handbuch der Judenfrage, * Hitlers Kampf, * Rosenbergs Mythus etc. Zwischen alledem mein * Montesquieu, 2 beide Bände – ich selber besaß Bd 1 nur als cartoniertes Correkturbogenexemplar, besaß, besitze nicht mehr, mein * Paul Lindau 3 .. * Muttchen sagte, die Nazis wolle * er später verbrennen. Ich sogleich: er solle sie mir schenken, die Nazis u. was er von meinen Büchern besitze, wenn es soweit wäre .. Ich nahm eine ganze Mappe voll Sachen hierher mit, sone u. solche, zum Studium u. zum Vorlesen. Ich will mit * Robert Wilbrandts * Marx 4 beginnen, dann soll * Fords Internationales Judentum 5 folgen. Hübsche * Schernerbibliothek, hübsche Auswahl, die ich daraus treffe .. Von * Harms, er sei übrigens erst Mitte 70 u. noch nicht 80, sprach auch * Muttchen mit Liebe u. vergnügter Nachsicht. Er schreibe ihnen so liebe Briefe, u. was den Nazismus anlange, dafür sei er Journalist, nachher werde er wieder anders schreiben. – Wir redeten auch vom Hunger, sie wußte keinen Rat. Es sei viel schlimmer als 1918, sie zählte jede Kartoffel. –
    Von Trude Scherner stiegen wir dann ins schon vertraute Café Meyer hinab u. aßen die paar Häppchen. Dann zu uns. Prompt kam der Mittagsalarm, den man schon vorüber geglaubt, nachgeliefert um ½ 2. Wurde aber nach einer halben Stunde abgeblasen. – Es ist jetzt fast 4 Uhr. Ich schreibe die ganze Zeit über, frierend, hungrig u. von der Erkältung gequält, die nun schon Wochen andauert u. in den Fluchttagen neuen Auftrieb erhalten hat. * E. schläft auf einem Lager Müllpapierballen; so komt sie am besten über die Zeit u. den Hunger.
    Immer wieder gehe ich meine Chancen durch: meine Flüchtlingsspur ist verwischt, es herrscht ein viel zu großes u. ständig wachsendes Chaos, als daß man mir nachforschen dürfte. Widerum: jede Begegnung kann mir in jeder Stunde den Tod bringen. Und wie lange noch? Wir erfahren wenig, Scherners sind absolut uninteressiert, Zeitung aus Dre Leipzig soll unregelmäßig eintreffen, mit dem Radio auf dem Rathausplatz haben wir k kein Glück. Immerhin: die Alli[i]erten sind

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