Klemperer, Viktor
sagte: die Organisation klappt noch immer. * E.: ja, aber das Radio sei das Einzige, das geblieben sei – Theater, Kino, Konzert, alles sei weg. Ich: ja, aber das Radio, das übertragene Conzert y todo 1 ist noch da. – Café Meyer war so voll, daß wir im ungeheizten Hinterraum sitzen u. lange warten mußten. Inzwischen kam der übliche Alarm . Das Radio stellte den sehr schlechten Empfang ein u. brachte Luftansagen aus Plauen: 80–100 km westlich von uns, bald danach 12 45 Abflug, Entwarnung. Das Essen gut u. wieder so wenig, den Hunger so fühlbar machend. Dazu die Qual, die ich immer im Restaurant, immer auf der Straße empfinde: von jedem Menschen fürchte ich, er könnte mir, ich könnte ihm bekannt sein, in keiner Minute fühle ich mich ruhig. Auf dem Dorf fühlte ich mich geborgener. Aber hier wimmelt es. Soviele Flüchtlinge – wir sahen wieder einen Treck, einen besonders jämmerlichen mit dünnen Decken statt der Plane über den Leiterwagen, mit Rindern bespannt – so viel Landsturm, alles aus allen Gegenden zusamengeführt. (Eine unserer Apothekerinnen aus Memel, ein junger Mann am Restauranttisch zum Kameraden: ... mit dem Amt aus Kra[Ein Wort nicht lesbar] .. Nach dem Essen las ich hier wieder vor. Stockend. Bald schlief * Eva ein, bald ich, bald versagte mir der ewigen Erkältung halber die Stimme. Zwischendurch notierte ich hier. – Wir wollen uns als Sonntagsfreude einen Kaffee gönnen; vielleicht kommt nachher größere Frische. –
Wir standen lange vor einer Deutschland-Karte, die im Schaufenster einer Buchhandlung am Rathausplatz hängt. Wir sind südwestlich von Dresden gelegen, wir sahen den direkten Weg über Chemnitz u. Zwickau, den wir einmal im Wagen gekomen, u. den Flucht- u. Hakenweg durch das Sudetenland, den wir neulich gefahren. Bei Falkenau waren wir gar nicht weitab von Bayreuth, wohin man die Piskowitz-Kamenzer Gruppe dirigiert hat. Wir sahen auch, ein wie großes Reich das bisher uneroberte Deutschland noch ist, trotz linkem Rheinufer, Ost- u. Westpreußen, Schlesien u. Pommern. Es kann lange dauern u. wir können es nicht mehr lange ertragen: die Gefahr ist zu groß, der Hunger ist zu groß, E.s Kräfte, meine Nerven lassen nach. –
Montag 12 März 45. Falkenstein .
Vorm. 9 h. Oben . Der Sonntag unten, eingeschlossen im Privatcontor hinter mattierten, später verdunkelten Scheiben, war doch noch ein bißchen mehr Gefangenschaft als die Wochentage. * Eva lag auf ihrem Sopha, ich las vom Schreibtisch aus den * Molo- * Schiller vor – belastet durch den schwäbischen Dialekt u. den ewigen Schnupfen, nicht uninteressiert, aber auch nicht mitgerissen –, bald schlief Eva ein, bald ich, bald schliefen wir beide; zwischendurch machte ich noch eine Tgb.-Notiz oder einen letzten scheiternden Versuch, mit dem * Wilbrandt- * Marx etwas anzufangen. Dann war es endlich 8, wir aßen unsere Brodscheiben, fürchten die üblichen ausweglosen Gespräche. Wie lange noch? Welche Chancen des Überlebens? Wer von unserem Kreis lebt, u. wohin sind die Geretteten? Dann kam pünktlich 21 h der fällige Alarm , blieb beim Voralarm u. wurde pünktlich 22 h abgeblasen. Wir schliefen bis nach 6 h. u. hatten heute den Umzug nach oben schon bewerkstelligt, als * Scherner kam. –
Gespräche mit ihm. Wo waren die Flieger gestern? – Ach, das war doch nur zum Vergnügen. – Wie ist der Kriegsbericht? – Ach, sie schwindeln ja doch bloß. – Er erzählte, daß * Norma mit ihren 3 Kindern morgen etwa eintreffen u. irgendwie in der überfüllten Wohnung hausen werde. N. war während des ersten Weltkrieges uns bekannt als die Verlobte des Priv.-Doz. * Schingnitz, 1 der sich nachher um mich bemühte, weil er auf Philosophieprofessur in Dresden hoffte. Sie heiratete ihn, er war Masochist oder Sadist, die Ehe ging in die Brüche; Schingnitz wurde wilder Nazi. Die Frau, mit * Sch. s in enger Verbindung geblieben, hat nachher einen Arzt * Dettke geheiratet, von dem sie drei Kinder hat; der Mann ist irgendwohin kommandiert, u. sie findet hier Unterschlupf, ich weiß nicht, ob ausgebombt oder flüchtig oder was sonst. Sch. sagt, wir hätten von ihr nichts zu befürchten.
Wir haben uns oft gefragt: wo bleiben die Gebildeten, man sieht in den Lagern, den Trecks, den Gemeinschaftstransporten nur Masse, nur armseliges kleines Volk. Bisher war meine Antwort, es gebe eben buchstäblich verschwindend wenige gehobene Leute, 99 % seien Masse – * Hitlers richtige Erkenntnis! Heute sagte * E., u. das
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