Klemperer, Viktor
gesprochen, von Görlitz aus: wir siegen. Am Nachm. war ein Arzt aus dem Rheinischen bei ihnen: In 14 Tagen ist es zu Ende! Der Mann habe gesagt, man schimpfe maßlos auf IHN. Arschloch, Scheißkerl, das seien Kosewörter im Vergleich damit; man könne diese Worte bloß aufschreiben, nicht in den Mund nehmen. – Sch. erzählte aber auch von seinem * Ullmännchen, der freundlichen Blondine: sie sei, durch Erziehung, bei reinstem Idealismus absolute Nazistin. * Hitler ersetze ihr die Religion, sei ihre Religion. Er wolle nur das Gute u. Schöne. Sie habe wörtlich gesagt: Was bliebe mir denn, was hätte ich denn, wenn ich den Führer nicht hätte! Und auf Sch s Einwand: Gott?: Die Pastoren zanken ja nur untereinander! .. Er, Sch., bringe das gute Kind allmählich auf die richtige Bahn, aber mit Führer u. Nazismus müsse er sehr vorsichtig umgehen. – Am Abend haben die behusamen u. unpolitischen Sch. s dann doch wieder den USA-Sender eingestellt: das rechte Rheinufer bei Remagen werde von den Amerikanern behauptet. –
17 h . Qualvoll das Stundenzählen bis zur nächsten Mahlzeit, den 3 Bröden zum Zuckerwasser, von denen ich wieder hungrig aufstehen werde. Aber dann tröstet wenigstens das warme Bett u. Schlafen. – Von etwa 14 50 –15 50 war Vollalarm . Es erfolgte nichts, wir blieben oben.
Dienstag 13. III 45. Falkenstein
9 h Ein Monat seit der Katastrophe, eine Woche seit dem Einzug in Falkenstein. Ich will nicht abergläubisch sein, man kann ja auch diesen 13. Februar doppelt auslegen: als Schreckenstag für uns u. als wunderbaren Glückstag. Und daß ich nun schon einen Monat auf der Flucht bin: gewiß jeder Tag vermehrt die Gefahr, aber jeder Tag vermehrt auch das bergende Chaos. –
Gewöhnung. Ich rasiere mich in der Laborküche aus der Tasse oder dem Topf, aus denen ich nachher das mein Süßstoffwasser trinke. Ich bringe vor dem Frühstück unsern ganzen Kram nach oben. Ich ertrage es sogar ohne Gegenrede, wenn mir * Scherner auf die Frage nach Radio u. Ztg, nach irgendwelcher Kriegsnachricht antwortet – Sie schwindeln ja doch alle, ich weiß nicht, es wird schon einmal ein Ende nehmen ... Er kann warten. –
Der gestrige Abend alarmfrei. Ich weiß nicht, notierte ich, was neulich hier eine der Helferinnen sagte? Wir hatten zwei Tage keinen Alarm, da dachte ich schon, nun ist die neue Waffe da! So fest wird noch geglaubt. –
Jeder Winkel, jeder Schrank, jeder Raum ist hier vollgepackt mit Ware. Gestern lagen aus halbgeleerten Cartons neue Packete auf den Tischen: Säuglingsnahrung, Nasensalbe, Injektionsnadeln, Asthmatabletten, Aspirin .... Sch. ist mindestens im gleichen Maße Kaufmann wie Apotheker. In Dresden sollen einige 50 von einigen 70 Apotheken zerstört sein. Wie lange kann noch Ware vorhanden sein? Immer diese Frage, u. immer geht es weiter – gegen die Natur. –
Ich las den * Molo- * Schiller vor u. fahre darin fort. Er mißfällt mir sehr.
14. März 45 Mittwoch Falkenstein
7 h. vor dem Frühstück . Ein elendes Übelkeitsgefühl, so sehr quält auf die Dauer der Hunger, da jede Mahlzeit viel zu weit von der andern entfernt liegt, u. da keine auch nur entfernt sättigt.
Früh beim Aufwachen der Überschlag des komenden Tages: Todesgefahr, Frost – denn der Eisenofen oben ist tückisch u. unzulänglich[,] u. Hunger, vor allem u. immerzu Hunger. Ich zähle die Stunden, wie ich sie in der Fabrik zählte. Eine Uhr fehlt oben, ich frage jeden Heraufkomenden nach der Zeit. Bei alledem, u. trotzdem mich immer wieder das Phantastische, Haltlose, geradezu gespenstisch Grausige unserer Situation anfaßt, enthält jeder Tag, beinahe sogar in der Mehrzahl, interessante u. sozusagen lebenswerte Stunden. Im Hintergrund von allem steht das * ès chambre des dames. 1 Wozu allerdings außer mir auch der Mss-Koffer in Pirna überleben müßte. –
Gestern zwei fahrplanmäßige Alarme, beide klein. Mittags 11 30 –12, Abends, sehr störend, denn wir waren totmüde, auch sehr irritierend, denn ein schweres Einzelflugzeug kreiste wiederholt tief über uns, u. deutsche Avions komen hier ja gar nicht mehr vor: von 21,15 – bis gegen 23. * E. legte sich hin, ich selber saß angezogen u. wartete. Die großen Städte sind ja erledigt, man kann jeden Tag erwarten, daß die kleinen an die Reihe komen. Und gerade gestern stellten wir fest, daß sich auch hier manches lohnende Ziel bietet.
9 h. oben. Frieren beginnt . Vor dem Vormittagsalarm kam * Sch. zu seinem üblichen
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