Klemperer, Viktor
Remagen sei nur ein Handstreich u. unangenehm. Aber der Feind werde bei Köln angreifen, der Rhein sei mit modernen Mitteln passierbar, u. hier gehe es nun um die Entscheidung, dies sei unsere letzte Position vor dem Herzstück Deutschlands, man müsse sie eben halten ... Die * Uhlmann berichtet heute, Amerikaner u. Russen, beide, seien nach dem gestrigen Heeresbericht wieder zum Großangriff angetreten (constantes Cliché der LTI). – Vielleicht ist doch noch Hoffnung für mich? – –
Es geht mir so oft durch den Kopf: Was wird, wenn bei aller Einschränkung u. Hungerei das Brod doch nicht reicht? Was wird, wenn mein Jackett, dessen Einfassungsborte sich löst, dessen rote Webkante freiliegt, u. das ja nun etliche 20 Jahre alt ist, wenn es ganz hinübergeht? Was, wenn mein Süßstoff zuende ist (heißes Wasser ganz [ sine ] sine 1 ?)? Etc. etc. Und immer dränge ich alles zurück. Es geht ja nur um das nackte Leben, jede andere Frage ist Unsinn. Auch ist ja jede nächste Stunde ungewiß. Ich sage mir[,] kein deutsches Leben hat im Augenblick mehr Wert als eine Papiermark, u. meines höchstens 50 Pf. Ich will mir s formulieren: nonsens questionum – vita nuda 2 ! –
* Stefan Zweig: Verwirrung der Gefühle. Inselverlag 1928
Das ist der mittlere Novellenband der dreigliedrigen Kette, 3 deren erstes Stück aus Kinderland ich nicht kenne, deren zweiten Teil Amok ich erst vor kurzem in Dresden las u. mir mühsam ins Gedächtnis zurückrufen mußte. Amok stellt reife Menschen ins Centrum, die Verwirrung den alten Mann (kehrt bis zur Ermüdung wieder, der alte Mann –, ebenso oft wie fanatisch, auf dessen Häufigkeit mich * E. aufmerksam machte). In Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau erzählt die alte feine Engländerin, wie sie 24 Stunden lang, aus aller Bahn u. Bürgerlichkeit geworfen, einen Spieler in Monte Carlo retten wollte, sich ihm eine Nacht lang hingab – der Junge ging dann doch zugrunde, brach alle Eide der Besserung. Im Untergang eines Herzens geht der alte reiche Comissionsrat Salomonsohn, enttäuscht von seiner verhätschelten Familie[,] am zufällig überraschten Dirnentum der Tochter unter (nicht ohne vorher zum frommen Judentum zurückzukehren). In der Verwirrung der Gefühle, der längsten u. titelgebenden Novelle[,] erzählt der alte Geheimrat u. Anglist die Tragoedie seines Erweckers u. verschollenen Lehrers, eines genialen Professors u. Homosexuellen. (Das ist in sublimierter Fassung ein Kampf gegen die Brutalität des § 175 u. beinahe eine mitleidige Verherrlichung der Paederastie. Der Professor muß sich vor den geistlichen Knaben, seinen Studenten, Gewalt antun, muß sich niedrigen Erpressern ausliefern, geht geistig u. sozial daran zugrunde.) –
Semper idem: Psychiatrische Fälle statt des allgemein Menschlichen; Übermaß an Sexualität in Stil u. Handlung – warum muß in der paederastischen Tragoedie der geliebte Student mit der Frau des verehrten Professors coitieren, warum muß in diesem für die Aktion ganz überflüssigen Ehebruch förmlich gewühlt, warum muß er im Stil des 18ième 4 lüstern vorbereitet werden? Es ist außer Frage, daß Zweig bei allem künstlerischen Können eine schmutzige Phantasie hat, x mal schmutziger als * Schnitzler im Reigen. 5 – Und semper idem: * Freud u. * Dostojewski bis zum Erbrechen. Dabei glänzender Erzähler, nur manchmal verkünstelter Stilist.
Aber in diesem Band komt das Verhältnis zum Natsoc noch stärker, vielmehr noch umfassender heraus als im vorigen. Hier wie dort: Schwanken contra Sturheit, Skepsis contra Sicherheit, Nichtwertung gegen stur einseitiges Werten, * Racine gegenüber * Corneille, 6 absoluter Gegensatz. Und insofern ist gerade * Zweig für die LTI exemplarisch verwertbar. Doch neu tritt hinzu: les extrêmes se touchent. Beide mißachten den Intellekt, * Anatole Frances Dame Raison. 7 Von A–Z hier Glorifikation der Leidenschaft, des Blutes, das über den Geist triumphiert. Poetischer Vorspruch, halbe Sonettform: Und nur der Blitz, von dem wir ganz entbrennen, / Läßt Blut im Geist, u. Geist im Blut sich kennen.
Es ist aber kein Gleich u. Gleich – das Blut triumphiert regelmäßig. – Der homosexuelle Professor doziert: Immer erkennt man ja jede Erscheinung, jeden Menschen nur in ihrer Feuerform, nur in der Leidenschaft. Denn aller Geist steigt aus dem Blut, alles Denken aus Leidenschaft, alle Leidenschaft aus Begeisterung ... 174. So ist es sprachlich charakteristisch, daß Zweig immer u. immer
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