Klemperer, Viktor
waren? Darauf ließe vielleicht die Unzahl von Schlächtereien schließen, die es in Falkenstein, Auerbach u. Neustadt gibt. – – Am Eingang von Neustadt, vor dem Braunen Roß, einem in Nürnberger oder Braunschweiger Stil gehaltenem Wirtshaus[,] wurden Pferde eines Trecks gefüttert – ein mittelalterliches Bild – u. auf den Stufen des Hauses standen die dazu gehörigen Leute. Wir gingen in die Gaststube, sie war voll von Frauen u. Kindern, ganz armes ländliches Volk, keineswegs besitzende Bauern. Aus ihren Gesprächsbrocken u. dem Ton ihrer Stimen klang tiefe Unzufriedenheit. Es scheint, als bekämen die Leute Nachtquartier u. führen nur bei Tage; sie klagten über die Unzulänglichkeit der Unterbringung. Eine Frau sagte erbittert: auf dem Flur soll ich schlafen, das tu ich nicht! Eine andere klagte, nicht einmal Kaffee gebe es, man könne sich höchstens Wasser in der Küche holen ... Wir gingen weiter u. fanden am anderen Ende von Neustadt ein zweites Gasthaus, einen großen langgestreckten grauen Kasten mit anständiger Gaststube. Hier bekamen wir Kaffee. Der Raum war fast leer, u. wir konnten dem Gespräch der Wirtin mit einer schlesischen Flüchtlingsfrau, einer bäurischen Besitzerin zuhören. Die Frau klagte verbittert u. sehr aufschlußreich. Im Breslauer Bezirk haben wir Ausgebombte aus Breslau u. Berlin aufnehmen müssen. Denen wurden unsere besten Räume zugewiesen, u. wir mußten uns begnügen. Es wurden auch auf Befehl u. Kosten der Gemeinde für diese Leute Zimmer ausgebaut. Bei dem Bauer X, der ein großes Haus hat[,] sind ganze sechs Zimmer eingebaut worden. Gerade als man damit fertig war, kam für uns der Räumungsbefehl. Am 27. Januar – (schon! Am 12. hat die russ. Offensive jenseits Krakau begonnen). Wir mußten alles zurücklassen – mein Sauerkraut, meine Kartoffeln – hier ißt man ja so ganz anders als bei uns, wir können uns nicht eingewöhnen, u. es war auch viel reichlicher zuhause. (Sie detaillierte ihre Sonntag-Mittagbröde: Suppe, Braten u. Klöße u. Sauerkraut, Pudding ..). Wenn wir nur zurück könnten! Man hat uns gesagt, in acht Wochen seien wir wieder zuhaus, die Russen würden hinausgeworfen, u. nach Lauban soll man ja auch schon zurückkönnen ... aber es wird ja so viel gelogen, u. ich glaube nichts mehr, u. was werden wir vorfinden, wenn wir wirklich einmal zurückkomen? .. Und hier ist man ganz anders zu uns, als wir zu den Ausgebombten waren. Wir sind nur geduldet, man sieht uns nicht gern, man weist uns ab: [‹]versuchen Sie s beim Nachbarn, bei uns ist alles voll.› Die Leute hier wissen nicht, wie das tut, so vertrieben sein. Auch die Ausgebombten haben es besser als wir. Die haben wenigstens auf einmal alles verloren, können sich damit abfinden, brauchen nicht zu fürchten, wie es bei der Rückkehr zuhaus aussehen wird ... Die Wirtin verteidigte sich, auch sie leide unterm Krieg, ihr Mann sei in überanstrengendem Arbeitsdienst, ihr Haus mit allerhand Einquartierung belegt, ihr blieben keine zwei Stuben. – Erbitterung, Verbitterung überall, aber nirgends ein Wort gegen den Krieg oder gar gegen die Regierung. Und nirgends das Gefühl der absolut verlorenen Sache. Nach Lauban sollen sie schon zurückdürfen! – –
Wir gingen langsam bei schönstem Vorfrühling zurück. Einmal, * E. machte Cigarettenrast am Straßenrand, war ein Flieger, ein großer viereckiger Kasten, wohl ein Feind im blauen Himmel bedrohlich u. gar nicht sehr hoch über uns, einmal fanden wir ein dickes Büschel Stanniolstreifen. –
Zuhaus las ich im kalten Oberzimmer den * Zweig-Bd zuende vor. Der Besuchsbetrieb in Sch s Privatcontor nahm kein Ende. Erst nach ½ 8 trauten wir uns herunter, da lag die Apotheke schon verlassen. Es ist ein bisschen kränkend, wie wenig sich * * Sch s um uns kümmern, wir sehen sie nur ganz selten. Aber sie haben übermäßig zu tun, sind wohl auch, was uns anlangt, ein wenig verängstigt. Und wir wollen ja möglichst verborgen u. abgeschlossen sein. – – ½ 3. Keine Entwarnung aber völlige Ruhe. Ich mache Nacht.
Freitag 16. März 45 Falkenstein
Oben gegen 9 h . Der Alarm, der uns die Nacht zerschlug, war faktisch um ½ 10 zuende. Die Sirene klingt hier sehr fern u. undeutlich – u. manchmal, wenn Strom fehlt, überhaupt nicht.
Die Leipziger NN vom 13. III, das neueste mir sichtbare Blatt – es trifft ganz unregelmäßig ein – hat einen Artikel: Vor der Schlacht um den Rhein. Schwer u. kaum verhüllt pessimistisch. Zwar
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