Klemperer, Viktor
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Im * * Schillerroman lese ich, große Stücke im Zusamenhang, nur manchmal blätternd, weiter. Es ist mir neu, u. es komt oft erschütternd heraus, wie Schiller in der Jenenser Zeit leidet, an Lungenkrankheit, an Geldnot, an der Mißachtung durch * Goethe, an der französischen Revolution – sie machen den Räuber-'-Dichter zum citoyen, 2 u. er erbittert sich gegen den Terror u. sieht den Dictator komen, u. in der Heimat hält man den Hofrat u. Professor für reactionär geworden –, an der Entfernung vom eigentlich Poetischen: er ist gebremst als Zeitschriftenherausgeber, gebremst durch sein * Kantstudium, sein Geschichtsstudium. Mit alledem wird Molos Buch besser aber längst nicht gut. Es bleiben die Lücken zwischen den Scenen; es bleiben vor allem die langen bedeutungsvoll unverständlichen Salbadereien. Hat in den ersten zwei Büchern der Sturm- u. Drangton, das extreme Ausbreiten dieser Sprech- u. Tonart u. Emphase von 1780 gestört, so walzt Molo nun die philosophisch-pathetische Art der aesthetischen Schriften des reifen Schiller aus, citiert, paraphrasiert, macht das Schwerverständliche unverständlich u. macht es als Hemmung des epischen Flusses langweilig.
½ 10 oben . Ich habe den größeren Teil dieser * Gerlach- u. * Molo-Notiz erst jetzt hier oben geschrieben, u. das ist nun meine Art des Stoïzismus; denn inzwischen ist * E., der ich mich überlasse, bereits an * Sch. herangetreten, mit einem fertigen Seiltänzerplan – ich kann noch nicht einmal sagen, das Seil sei über den Abgrund gespannt, denn es wird * Münchhausenhaft in die Luft geworfen, unter uns abgeschnitten, höhergeworfen. Bayern, Richtung Schwaitenkirchen, 3 geänderter Name, verlorene Papiere – Mixtur aus * Karl May u. * Sherlock Holmes. Unsere richtigen Papiere, unsere Mss. (E. s Compositionen, mein Stück Tgb. sollen bei Sch. deponiert werden, der Judenstern auch. Ich werde 5 Jahre älter sein u. Studienrat aus Landsberg a/W. Geld soll uns Sch. geben. – Das ist alles irrsinnig u. entsetzlich gewagt. Aber die * Apothekerslehrlingin aus Dresden, seit heute früh hier im Dienst, scheint E. noch gefährlicher. Sie plant den Aufbruch für morgen früh. Offiziell nach Aussig. Vorläufig unter unserm Namen. –
– – Eine kleine Tröstlichkeit. An den Heeresbericht schloß sich gestern die offizielle Mitteilung, daß ein Major u. etliche * * * * * Oberleutnants u. Leutnants z. T. wegen Fei[g]heit vorm Feinde, z. T. wegen schwerer Dienstverfehlung vom Standgericht zum Tode verurteilt worden seien. 4 Ihre Schuld: daß die Rheinbrücke bei Remagen unzerstört in Feindeshand gefallen. Wir fanden diese Verlautbarung sehr zweischneidig: sie zeigt wohl, wie streng es im Heer zugeht, aber sie zeigt doch auch, wie böse es im Heer aussieht. Wir waren überrascht, welchen Eindruck das auf den sonst gleichgültigen Hans Scherner gemacht hat; er war ganz erregt, diese Zustände, so könne es nicht mehr lange weitergehen! Sodann: wir fanden im gestrigen Heeresbericht über Remagen nichts anderes, als was darüber seit vielen Tagen gesagt wird: ein Hin u. Her der Kämpfe. Sch. will nun aus ebendiesem gestrigen deutschen Bericht – oder hat er um 21 h die Engländer gehört? – er will mit Bestimmtheit daraus entnomen haben, daß die Engländer den Riegel dort durchbrochen hätten. Auch hieraus schließt er: es kann nicht mehr lange dauern. Und das, trotzdem er jetzt zwei Tage unter dem Einfluß des * Oberstabsarztes gestanden hat .. Ein Gegengift gegen dessen noch ein halbes Jahr! Aber doch ein sehr winziger Trost. Und der Sprung in die abolute Leere bleibt.
½ 12 . Der Studienrat Wilhelm Klare u. seine Frau Ellen Veronika, beide aus Landsberg a/W, von dort nach Strausberg, von dort nach Dresden in die Katastrophe hinein, zuletzt bei Scherner Unterkunft suchend, aber sein Haus ist überfüllt, u. nun auf der Fahrt nach Schwaitenkirchen zu * * Burkhardt- * Stühlers ist ihnen beim nächtlichen Umsteigen die Aktentasche mit ihren Papieren vertauscht worden – aber Lebensmittelkarten haben wir noch, hier sind sie als Ausweis (was zuerst erschwindelt zu werden pflegt, das Begehrteste fordern wir also nicht, höchst vertrauenerweckend! – u. bis jetzt sind die Karten noch gar nicht mit Namen gezeichnet, zufälligerweise nicht) – im übrigen bitte wird Herr Dr. Sch. in Falkenstein unsere Aussage bestätigen, Sie können uns ja beschreiben, ein Herr von 69 Jahren, eine Dame gleichaltrig, mit kurzem Haar u. starken Augengläsern ...,
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