Klemperer, Viktor
Keller. Der bestand aus einem tiefgelegenen schmalen Gang unter gewölbter Decke mit vertikal darauf zulaufenden einzelnen Räumen oder Gängen. Zwei von diesen blieben verschlossen, die 30–40 Gäste, viele Frauen, einige Kinder, wenige Männer, verteilten sich recht gequetscht auf die Kellertreppe, das Längsgewölbe u. die mittlern der vertikalen Räume. Die meisten standen, ein paar Sitzgelegenheiten waren da, auch gab es Kisten mit Kartoffeln u. Rüben. * E. stülpte einen leeren Behälter über eine volle Kiste u. machte sich so einen Sitzplatz. Es war sehr kalt, u. wir mußten an anderthalb Stunden aushalten. Erst war alles still, der Wirt brachte von Zeit zu Zeit Lagebericht: Verbände im Raum Dresden–Chemnitz–Oschatz–Leipzig, über Bautzen, in Meiningen, in Coburg, in Zittau, im Anflug auf Plauen ... dann: im Abflug, in Richtung auf uns, einige haben noch Bombenlast, es ist mit Abwurf zu rechnen. Und nun begann wieder das unheimliche Näherkomen u. Dunklerwerden des Fittichrauschens u. das beengende Warten auf den Einschlag u. das Aufathmen beim Leiserwerden des Summens u. das neue Sichverstärken. Geschwader auf Geschwader muß über uns geflogen sein, es nahm kein Ende, zu aberhunderten müssen sie über Deutschland gewesen sein. Endlich, nach einer kleinen Ewigkeit (die faktisch 75–90 Minuten gedauert haben dürfte), bewegten sich die Leute nach oben; es sollte entwarnt worden sein. Erst stand man noch im Hausflur, dann sickerte man ins Lokal zurück. Es war da 14 45 h. Der * Wirt war dabei, den Eisenofen zu heizen, wir setzten uns in nächste Nähe, ein junger Mann in eleganten Schaftstiefeln hielt beglückt einen Fuß um den andern dicht an die Glut. Entwarnung war noch nicht da, Angst vor dem Schutzmann draußen herrschte noch immer, wieder mußten die Gäste ins Innere des Lokals rücken. Alles bestellte Fleischbrühe oder Kaffee, der Wirt machte gute Geschäfte. Wir tranken Kaffee, aßen ein bißchen Brod – immer viel zu viel in Anbetracht der Ration u. viel, viel zu wenig für den Hunger. Dabei hörten wir auch den Heeresbericht. Man kann ihn beinahe mit dem der letzten Tage u. Wochen verwechseln. Überall in O. u. W. schwere Kämpfe, überall[,] neben dem Hin-u.-Her, geringe Verluste an Boden ein Ort aufgegeben, überall Verschleierung der Gesamtsituation, die fraglos von Tag zu Tag gespannter wird, überall aber auch Ausstehen der völligen Entscheidung. In den Straßen lag wieder frisches Stan[n]iol.
* E. schläft jetzt, u. ich will den * * Schillerroman weiterlesen. Vor 21 h. ist kein neuer Alarm wahrscheinlich. –
Sobald der Druck auf meinem Herzen nachläßt, der Druck der Fittiche oder der meiner Spezialsituation, macht sich auch sofort der immer nur viertelbefriedigte Dauerhunger bemerkbar. –
Wieder hörte man im Keller kein Wort der Erbitterung über die Kriegsdauer, auch kein Wort der sonderlichen Angst. Nur: ob es einen trifft oder verschont, ist Schicksal. Alles ist willen willenlos fatalistisch, allen ist der Todesgedanke selbstverständlich, alltäglich u. abgelatscht. Die Leute sind genau so heroisch wie eine Hammelherde.
Dienstag 20 März 45 Falkenstein. Morgens
E. fühlt sich sehr schlecht – Erbrechen in der Nacht – gut, daß wir nun nicht mit dem 5 h Morgenzug wegmüssen. Für mich beginnt jeder Tag mit der Frage, ob ich ihnen auch heute nicht in die Hände fallen werde. Das Gefühl stumpft sich nachher ab, schwillt auf dem Restaurantweg oder den Restaurantwegen – auch gestern wieder der brodsstreckende Kartoffelsalat bei Meyer – erneut an, verebbt erneut; das ist schon so gewohnt wie der an- u. abschwellende Druck beim Rauschen der Fittiche[] .. Gestern Abend u. die ganze Nacht übrigens alarmfrei. – Bei Meyer – amüsanter Abendbetrieb, eine Menge Leute bei Kaffee, Bier, auch bei Karten (vor 7 bekamen wir keinen Platz, danach wurde ein Tisch alter Kartenspieler frei); dazwischen eine Reihe alter Kunden, zu denen auch wir nun gehören, die erhalten später zwischen den Caféhausgästen ihr Abendbrod serviert, d.h. einen Teller Suppe wie Mittags u. eine kleine Portion Kartoffelsalat oder Bratkartoffeln – bei Meyer also an unserm Tisch Gespräch zwischen einem hinkenden jungen Uoff. mit Schützenschnur, u. silbernem Verwundetenabzeichen u. Band vom Polenfeldzug aber ohne jede Auszeichnung u. einem KVG-Schaffner 1 mit Parteiknopf. Der Soldat, wie sich ergibt hier beim Versorgungsamt beschäftigt, gutmütiges Aussehen, der Schaffner älter,
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