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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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zerfallend in ganz kleinbürgerliche fast dörfliche Vorstädte u. kleinsten alten tradtionsbelasteten historischen Stadtkern. Ich notierte auf meinen Zetteln Schloß, Kirche, Kloster, drei Säulen auf dem langen Marktplatz, einen hübschen Park, viel altmodische Fuhrwerke mit Rössern – wo komen all die Rösser her? – eine ganz moderne, buntgeschmückte evangelische Kirche, die ich für ein weiteres Gasthaus hielt. Von alledem habe ich nur noch verschwimmenden Eindruck, da andere Städtebilder sich darüber legten. Was blieb, ist dies: historischer u. kultureller Kern – wieviel solche Werte in den Kleinstädten, wieviel noch Unzerstörtes darin! – u. modern industrieller Ring, hier Kohlenring, darumgelegt. Dazu das Strombild. Und dann die böhmische Eigenart: ein Ju. Dr. = Rechtsanwalt, Selchereien, das Kaffee-Servieren. Aber als großdeutsche Gleichmacherei darüber die Ämter der Partei, der Adolf Hitlerplatz etc. Ich notierte noch die Eleganz vieler Stadtkernhäuser aus dem 18. Jh. (Falkenau, Pfaffenhofen, Aichach – wie viele solcher Kleinstädte haben wir, von denen ich , von denen man nichts weiß, deren Namen man nie gehört hat, u. die doch große Schönheiten, Werte u., bei aller Verwandtschaft, Eigenart besitzen.)
    Am frühen Nachmittag, nun schon ermüdet, zum ganz nahen Eger weiter. Dort um 16 h. Zum erstenmal sah ich einen teilweise zerstörten Bahnhof: ein Teil des Gebäudes, ein Teil der Überdachung in Trümmern. In den nächsten Tagen wurde mir dieser Anblick eine Selbstverständlichkeit; hier beim erstenmal entsetzte er mich. Es sollte eben ein Zug nach Wiesau abgehen, ich wollte ihn durchaus benutzen. Wir erreichten ihn, als er sich eben in Bewegung setzte. Einsteigen wäre noch möglich gewesen; * E. sträubte sich, ich verzweifelte einen Augenblick, E. zeigte auf die Flakgeschütze des letzten Waggons: da wären wir noch bedrohter gewesen als hier. (Wir waren bei kleinem Alarm von Falkenau abgefahren, Tiefflieger betätigten sich überall). Wir saßen noch eine Weile im Wartesaal u. fuhren dann, etwa von 18–19 h, nach Marktredwitz . Maßlose Quetsche. Eine dicke Frau mit kleinem wohlinformiertem Jungen entzückte sich über Werwolftaten: Dreißig Pferde hatten sie irgend wo erschossen, und drei Offiziere umgelegt, setzte der Junge hinzu. Die Nachbarin fragte bedenklich, ob das den übrigen Civilisten nicht schaden dürfte. Darüber schwieg die Nazike. – Über die Länge des Ortes hin – ein massiger Rathausbau – suchten wir vergeblich Unterkunft; jedes Hôtel lehnte ab. Zurück bei fallender Dunkelheit. Dem Bahnhof gegenüber am Torpavillon eines öffentlichen Gebäudes die NSV. Allerhand Leute darin, um Quartier flehend wie wir. Sehr nette u. ernstlich bemühte bemühte Mädchen als Helferinnen. (Wie denn die NSV überall ihr Möglichstes tat, aber auch überall weitgehend hilflos war.) Wir bekamen eine Suppe. Wir wurden dann durch tiefste Nacht die Straße entlang, danach durch einen Park ins Josefastift geführt. Infernosaal. Viele Betten übereinander. Schreiende Kinder, trocknende Windeln, Luft glühheiß u. total verdorben, schmutzige, schimpfende Weiber. Die eine klagte, ihr Säugling verhungere, Milch gebe es nur bis zu 6 Monaten! Die andere: es sei nicht wahr, daß sie die Krätze habe, es sei bloß ein Ausschlag. Darauf wir: dann zögen wir die Nacht im Wartesaal vor. Dorthin also zurück. Mit vielen Leuten in der Halle des Schalter- u. Gepäckraums. Im Josefastift war erzählt worden, der Flüchtlingzug des vorigen Tages sei angegriffen worden: 5 Tote, etliche Verwundete. Jetzt ging plötzlich das Licht aus, ohne Alarm. Indem hörte man schon das Summen in der Luft. Wo ist ein Bunker? Niemand gab Antwort, niemand wußte Bescheid.
    Man duckte sich in Säulennähe u. wartete – hilflos. Ein größerer Verband schien den Ort zu überfliegen. Nach einiger Zeit wurde es ruhig. Das war um Mitternacht. Danach schliefen wir ein paar Stunden tant bien que mal, plutôt mal. 1 Nächte in Kleidern, absolute Ungewaschenheit, Todesnähe, unzulänglichestes Essen – so ging es nun bis zum 13. April, u. mit dem Gewaschensein stimmt es auch heute, am 15. April, noch nicht.
     

 
    Am Morgen des 4. wurden wir bei der NSV mit Kaffee gelabt, u. um ½ 8 ging ein Zug mit Verspätung u. vielen Störungen unterwegs nach Regensburg. Ich war sehr praeoccupiert; so oft man hielt, dachte ich, jetzt kome ein Angriff. Ich stand die ganze Zeit im D-Zuggang (der D-Zug fuhr aber als jämerlicher

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