Klemperer, Viktor
, denn während München sich vielleicht wiederherstellen läßt, ist Dr. wohl total vernichtet. – Ungemein nun, wie in dieser Ruinenstadt München das Leben schon wieder mächtig spurt. Von der kleinstädtischen Schläfrigkeit der Stadt vor 1914 ist nichts zu merken. Ströme von Menschen. Geschäfte in halbzerstörten Häusern, in – Messina! – neuen Holzbaracken. 1 Schienen auf die Straßen gelegt, kleine schwarzqualmende Lokomotiven schleppen Lorenzüge, jede Lore durch Kistenbretter in eine Art primitiven Waggons verwandelt, alle Plätze dichtbesetzt, auch Menschen traubenförmig zwischen u. an den Waggons hängend (Marseille in Potenz!). In der Innenstadt gibt es auch ein u. die andere richtige Trambahnlinie. Auffallend das fast gänzliche Fehlen von Trichtern in den Straßen, auffallend die geringe Zahl von Brandspuren; man muß sehr gut gezielt u. nur Sprengbomben, keinen Phosphor angewandt haben. Wir sagten uns: eine grausam getroffene aber im Gegensatz zu Dresden doch noch lebende Stadt; wir sagten uns aber auch, hier sei noch viel zu holen, u. inzwischen ist ja München auch noch wiederholt bombardiert worden.
Ich habe den Eindruck beider Aufenthalte zusamengefaßt. Am Donnerstag drangen wir nicht allzuweit ins Innere vor, wollten frühstückten erst im bahnhofsnahen Hôtel, gerieten nachher in großen Alarm u. wurden in den Parteibunker gewiesen. Das sind tiefe Katakomben ähnlich denen des Bahnhofsbunkers auf dem freien Platz irgendwie bei, zwischen oder hinter den Museen (ich meine die Mu Pinakotheken u. die Glyptothek); ich vermochte mir kein Bild davon zu machen, was von diesen Museen noch steht, wieweit es sich bei dem freien Platz um ursprünglichen Rasen, wieweit um freigelegte Trümerstellen handelt, u. wieweit man hier am weiteren Ausbau des großen Bunkers, oder woran sonst man arbeitet. Die Leute strömten zu hunderten herein, man drängte sich. Nachrichten vom Radio her wurden alle paar Minuten durchgegeben. Nach einer kleinen halben Stunde wurde Vorentwarnung gemeldet. Kaum oben, hörten wir das Summen von Tieffliegern, auch das Knattern eines Mg-Streifens u. eilten mit sehr vielen anderen Leuten in den Bunker zurück. Etwas später hieß es: Vollentwarnung – worauf freilich auch nichts zu geben. Als der Vollalarm begann, hatte man uns gerade in einem kleinen Gasthof eine Suppe zugesagt; jetzt waren wir von diesem Lokal weit abgekomen, fanden dafür aber ein richtiges großes Restaurant. Es waren nicht viele in Betrieb u. die Essenszeit ist überall eng begrenzt. Aber gegenüber Falkenstein herrschte doch eine gewisse Fülle. Vor allem bekomt man – überall im gesegneten Bayern – Kartoffeln ohne Marken. Man gibt auch weniger Fettmarken u. bekomt das Fett reichlicher zugemessen. Das gilt von Pfaffenhofen u. von Aichach natürlich erst in noch höherem Maße als von München; auch zahlt man in M. ziemlich hohe, in den Kleinstädten sehr niedrige Preise. In den Dörfern dann berühren sich die Extreme. D. h., es ist offenbar überall die Hülle u. Fülle da, aber einige teilen gutherzig davon erstaunliche Herrlichkeiten aus, Milch, Brod, Röhrnudeln, Wurst, Maccaroni, Gries (ohne Nährmittelmarken u. mit Ei zurechtgemacht), andere halten aufs hartherzigste alles zurück, rechnen mit komender Hungersnot u. sehen in den zahllosen Flüchtlingen, die das Land überschwemmen (wie Flöhe den Kopf eines gebadeten Hundes), einen rechtlosen Heuschreckenschwarm. – Beim Essen saßen wir am gleichen Tisch mit einem Berlinischen Ehepaar. Er sagte: Man erzählt, * Hitler habe sich erschossen, sie : Sie erzählen, in 4 Tagen komme die Wende, die neue Waffe, die neue Offensive. Das war ins Extrem gesteigert die doppelte Vox populi, der man überall begegnet. Oder richtiger begegnet e , denn in den letzten Tagen ist der Endsieg = Optimismus (wenigstens in unserer Umgebung) so gut wie ganz verstumt, u. die defaitistischen Äußerungen lassen sich so wenig mehr zählen u. auseinanderhalten wie die Alarme: man hört überall Sirenen, überall Tiefflieger, überall fernes u. gar nicht mehr fernes Frontgrollen, überall den Stoßseufzer: Wann die Amerikaner nur schnell komen!
Am zeitigen Nachmittag des 5. April also fuhren wir nach Dachau u. von dort mit neuem Zug nach Pfaffenhofen weiter – y en a trois, 2 Pf. an der Ilm ist das größte, einige 40 km nördlich München.
Sehr kleine Stadt, kleiner als Falkenau, aber widerum größer als Aichach. In allen drei verschieden dimensionierten Städtchen
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