Klemperer, Viktor
Personenzug). Zwei Personen waren interessant: ein blutjunger knabenhafter Kellner, der sich zum Heer stellen mußte u. nicht die geringste Begeisterung zeigte; ein zur deutschen Armee kommandierter slovakischer Volksdeutscher, der sich, andeutend aber sehr bitter, über die Hetze der NSDAP aussprach, die erst die Spaltungen u. Spannungen in der Tschechoslovakei u. zwischen Deutschen u. Tschechen hervorgebracht habe. Jetzt seien die Slovaken gänzlich antideutsch, u. die Volksdeutschen – er selber habe drei Militäreide nacheinander leisten, in drei verschiedenen Heeren nacheinander dienen müssen, als Tscheche, als Slovake, als Deutscher – die Volksdeutschen seien gänzlich deroutiert 2 u. zukunftslos.
Gegen ½ 2 fuhren wir in Regensburg ein. Die ständige Übersteigerung des Elends läßt mich den ersten Etappen nicht mehr ganz gerecht werden. Die erste Wartesaal-Nacht in Marktredwitz hatte mir großen Eindruck gemacht durch die enge Zusamenpferchung u. das Durcheinanderwuseln der Gruppen am Boden. Soldaten, Civil, Männer, Frauen, Kinder, Decken, Koffer, Tornister, Rucksäcke, Beine, Köpfe verflochten, malerisches Centrum ein Mädel u. ein junger Soldat, Schulter an Schulter gelehnt zärtlich schlafend. Jetzt ist mir so etwas derart alltäglich, daß ich dies Bild der ersten Nacht vergaß. Es fällt mir nur eben ein, weil der Bahnhof Eger ein unberührtes Gebäude im Vergleich zum Bhf Regensburg u. dieser wieder ein harmloser Anblick München gegenüber war. Trichter, zerstörte Bauten, zerstörte Waggons, zerstörte auf Land gezogene Schiffe, ein Schiffsvorderteil senz altro, 3 der Bahnhof selber zu großen Teilen Ruine. Hier bei der dritten NSV-Suppe Kleinalarm. Weiterfahrt 17 45 möglich. In ein benachbartes Hôtel. Bei der ersten Tasse Kaffee Vollalarm. Geräumiger gut eingerichteter Keller. Ein Dutzend Leute. Wirt bringt von Minute zu Minute Bericht. Nach einer Weile Vorentwarnung. Wir trinken oben unsern zweiten Kaffee. Radio (ohne neue Sirene) dreimal wiederholend: Stärkste Tieffliegergefahr. Niemand in istrada kümmert sich darum. Wir schließlich auch nicht. Gang durch die Stadt. Was haftet davon? Der eine Victor HugomSatz: Irun n est plus Irun . 4 Wir waren wohl 1920 in R. auf der Fahrt nach Dresden. Meine Erinnerung: die weiße u. tote steinerne Museumsstadt . Der Dom stand weiß unmittelbar am breiten Strom, zwischen weißen Mauern u. Palästen lagen einsame Straßen. Und jetzt? Das Einzelne hat sich mir nicht eingeprägt: stattliche alte renaissancehafte u. mittelalterliche Bauten – aber in einer ganz modern u. stark belebten Stadt. Nicht, gar nichts Versteinertes u. Totes. Einzelne Zerstörungen wie in Dresden vor der Vernichtung ändern rein gar nichts an der Lebensfülle. Der allgemeine Farbton ist übliches Grau. Der Domturm, zugleich massig-riesig u. doch auch zierlich, allerdings weißlich glitzernd mit seinem Zackenwerk[,] ist von der Donaubrücke, bis zu deren Mitte wir gingen, ein Stück entfernt; mir ist jetzt, als trenne ein altes Thor den Fluß von der Stadt.
Zum Bahnhof zurück – Elend des Essens in diesen Tagen, selten etwas anderes als trockenes Brod od. eine NSV-Suppe – u. sehr verspätet angetretene Fahrt; wie wir hofften, bis München. Stattdessen hieß es in Landshut , etwa um 9 h Abends, jedenfalls bei völligem Dunkel: Aussteigen, Strecke zerstört, Fußwanderung nach Altdorf, der nächsten Station, 4 km. Das war doch wohl die größte Strapaze dieser Tage (obwohl wir später längere Strecken im Gepäckmarsch zu bewältigen hatten). Rucksack u. in jeder Hand eine schwere Reisetasche. Der Anschluß an die eilige Gruppe der Passagiere durfte um keinen Preis verloren gehen. Schlechtester Weg, vielmehr erhöhter holpriger Pfad über nassem Gelände, in dem dicht bei dicht zu beiden Seiten riesige wassergefüllte Trichter glänzten. Stolpern, umknöcheln, Rutschen, immerfort Gefahr, in einen Trichter zu stürzen. Schwitzen, Schmerzen in Schultern u. Armen, Vorwärtskeuchen. Von Zeit zu Zeit zerstörte Baulichkeiten, meist nur die Trichter im Gelände. Was kann hier Anlaß zu solchem Bombardement gegeben haben? Nach einiger Zeit hatte die Gruppe offenbar den Weg verloren, es ging durch immer nässere Wiese, u. dann war ein Bach da, ziemlich breit, u. von der dazugehörigen Brücke existierten nur noch einige unter das Wasser versunkene Balken. Wir mußten durch, das Wasser ging über die Knöchel, füllte die Schuhe. Danach kam trockeneres Gelände, u. nun sahen wir im
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