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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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Bahnhofsrestaurant ein gutes Mittagessen. Und noch ein Gutes: es hatte sich mir am rechten Daumen ein schmerzhafter Absceß dicht am Fingernagel gebildet; in einer kleinen Rotkreuzstation half mir eine freundliche Schwester mit etwas Ichthyolsalbe u. einem deckenden Verband. Ich ging sehr zufrieden die Bahnhofshalle am Bahnsteig entlang zum Restaurant zurück, da hörte ich schweres Sausen über mir, sprang in den Eßsaal u. lag, während es krachte u. Scheiben klirrten, knieend an einem Pfeiler; halb unter mir kauerte ein ganz junges Mädchen, o Gott! o Gott wimmernd, ringsum knieten Leute, lagen umgestürzte Stühle; viele Menschen rannten zur Thür, andere schrieen: Drinbleiben! Drinbleiben. All das ein Ineinander von Sekundendauer. Ich sagte mir sogleich: ein einzelner Tiefflieger. Tatsächlich hatte sein Abwurf einen Abort in der Nähe des Eßraumes getroffen. Es wurde ein bißchen ruhiger, ich eilte zu unserm Tisch in der Mitte des Saals; * Eva saß dort unverletzt (wie alle übrigen auch); sie hatte unter dem Tisch Deckung genomen, unter dem Nebentisch lag ein Hauptmann, wir krochen gleichzeitig wieder hervor. Wir bestellten auf den Schreck noch Kaffee, ich machte eine Zettelnotiz; da hieß es, jetzt fliege ein Verband ein, man solle den Keller aufsuchen. Der, am Bahnhofsflügel, war ziemlich tief u. zutrauenerweckend, nur zu klein u. gestopft voll. Ich mußte das Gepäck im Vorraum an der Treppe lassen u. stellte mich in seiner Nähe auf, während E. etwas tiefer innen zu stehen kam. Man stand dicht gedrängt. Ein schweres Krachen, Kalkstaub rieselte in die Augen, das Licht ging aus, mein Hut war verschwunden. Geschrei, Ruhe!-Rufe, vielfältig: mein Hut, meine Mütze! – Hat denn keiner eine Taschenlampe? – Im Vorraum ist einer verletzt ... Inzwischen gab es da u. dort eine Taschenlampe, wurden Kopfbedeckungen gefunden u. ausgeboten, von weither rief E.: Victor, ich habe Deinen Hut! All das lenkte ab, es muß inzwischen wiederholt, wenn auch nicht ganz so nah, gekracht haben – ich weiß es nicht. Leute strömten die Treppe hinauf, es sei vorüber; sie liefen rasch wieder hinunter: es gehe weiter. Eine Weile später fanden E u. ich sich zusamen u. wir wagten uns hinauf. Auf halber Treppe hörten wir mehrere scharfe Detonationen. Wir machten mit anderen kehrt. Von oben rief man nun: es sei nur – nur! – die Munition. Ein Güterzug mit Munition stand in der Halle, dessen einzelne Waggons oder Ladungen explodierten säuberlich successive. Wir blieben noch ein wenig im Keller. Dann gingen wir endgiltig hinauf. Das Hallendach war gänzlich zertrümmert, der Boden mit Scherben besät, aus dem Güterzug kamen noch immer (u. noch lange) die einzelnen Explosionen, aber es flog nichts in der Luft herum; ein Bau an der entgegengesetzten Seite des Bahnhofs brannte u. entwickelte vielen Qualm; Feuerwehr war schon in Tätigkeit. Das Ganze sah nicht allzu schlimm aus – wir hörten auch später, als wir vor Tieffliegern in einem Haus am Wege unterstanden, daß es nur einige Verletzte aber keine Toten gegeben habe – aber nun war die Strecke zerstört, u. wir mußten einen 9 km. langen Gepäckmarsch zur nächsten Station, nach Zuchering machen. Hierbei, wiegesagt suchten wir zum erstenmal vor Tieffliegern Schutz, wie es uns seitdem zur täglichen Gewohnheit geworden ist. Eine Zeitlang wanderten wir mit einem Soldaten zusamen; der Mann, absoluteste Ausnahme hier, hoffte noch immer auf den 20. April. (Heute ist der 19., Russen u. Anglo-Amerikaner nähern sich gleichzeitig Berlin; ich bin nun auch fast abergläubisch gespannt, was dieser Freitag, der 20. April, deutscher- oder feindlicherseits, bringen wird.). Die Wanderung war anstrengend u. öde. Das war nicht die typische oberbayrische Hoch Ebene, wie wir sie nun seit einer Woche täglich u. gründlich kennen lernen u., bis auf ihre baum = schattenlosen staubigen grand routes, 1 gern haben. Das Typische dieser Hochebene ist ihr grünes Wellengelände, in das sich immer wieder Waldstreifen reihen, oft coulissenartig, sodaß man Durchblick auf neue Wiesenbreiten u. neue Waldcoulissen oder -inseln hat. Und ganz in der Ferne stehen dann richtige Bergzüge, walddunkel oder ferneblau am Horizont. Und überall, oft dicht beieinander, liegen Dörfer, jedes mit eigener Kirche in der Mitte oder als Spitze u. Anführerin, u. jede Kirche hat ihren Turm, den einfachen Zwiebelturm oder den mit aufgesetztem Rettich, oder den Spitzturm, oder den Treppengiebelturm, u. manchmal ist

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