Klemperer, Viktor
gefundenen Pensionen. Sie lagen alle in so grausam angeschlagenen, teilweise eingestürzten überall brandgeschädigten Häusern, daß uns angst u. bange wurde. Häufig öffnete man auf Klingeln gar nicht. Oder man sagte uns, die Zimmer seien unbewohnbar. Einmal gab es eine dramatische Scene; auf der Bühne hätte ich sie für Übertreibung gehalten er . Eine Frau, mittelalterlich, schwärzlich, zeigte uns mit ungeheurer Leidenschaftlichkeit, mit wildestem Redeschwall im Dialekt ihre schadhaften Zimmer, erzählte ihr Leid. Als sie dann unser u. Dresdens Schicksal hörte, steigerte sich durch Mitleid u. Entsetzen das Superlativische ihres Redens, ihrer Gesten u. Bewegungen ins Phantastische. Sie schüttelte uns die Hände, sie hängte sich an * Evas Arm, sie kuschelte ihren Kopf an E. s Hals, sie lief so mit uns ein Stück der Treppe hinunter, immerfort den Krieg u. seine Fortsetzer verwünschend, immerfort Wünsche für uns heraussprudelnd. Wir konnten uns kaum losmachen. Das Temperament u. die offenherzige Wucht dieses Antifaschismus u. Antibellicismus 5 tat uns wohl. Auch eine vox populi, u. gewiß nicht vereinzelt in Bayern. (Ein paar Tage später hörten wir, allerdings unbestätigt, es habe eine Hungerdemonstration in München stattgefunden. Gleichzeitig freilich: Feuerwehr habe mit Spritzen die Demonstranten auseinandergejagt. Und bis heute, 17/4., rührt sich ja auch in Bayern nichts, u. der Krieg geht weiter.) Nach einiger Zeit wurde uns vor den zerschlagenen Häusern allzuangst, u. nach einem Abendbrod im Roten Hahn, der einen jämmerlichen Behelfsraum am Stachus innehat, suchten wir doch wieder, zum drittenmal, den Bahnhofsbunker auf.
In der NSV sagten sie: Seid s noch immer da, Leut ?!, u. zum Schlafen gab es diesmal für E. nur den nackten Boden. Trotzdem waren wir froh hier zu sein, denn um 1 Uhr Nachts gab es Vollalarm, viele Leute strömten herein u. irgendwo draußen fielen Bomben. Es wäre kein Vergnügen gewesen in einer der Pensionen.
Am Montag d. 9. April fühlten wir uns in dieser Situation schon derart zuhause, daß ich das Bunker- u. Ruinenleben kaum noch als etwas Besonderes in mich aufnahm. Wir frühstückten wieder im Excelsior, uns als Ortskundigen u. Habitués 1 u. sozusagen Alteingesessenen hatte sich ein interessantes junges Ehepaar angeschlossen. Sie kamen aus Graz, der Mann, kleiner Beamter, war auf dem Wege nach Berlin, sein rückständiges Gehalt zu fordern; wo sie zur (momentanen) Ruhe komen oder neu eingesetzt werden würden, war ihnen unbekannt. Es war nun amüsant, wie in dem desillusionierten u. erbitterten Kopf des Mannes noch einzelne eingelernte u. pflichtmäßige Brocken der LTI haltlos u. in abbröckelnder Auflösung inselhaft herumschwamen. Aus Graz waren die Bonzen in Autos geflohen, u. die Kleinen mochten sehen, wie sie davonkamen. Überhaupt, die Kleinen mußten es wieder einmal ausbaden, alles: das Elend, den Krieg ... Aber, natürlich, es würde noch gut ausgehen. Der * Führer hatte ja gesagt, es gebe kein Unmöglich, und dann: wir seien ja der Wall Europas gegen den Bolschewismus. Wir ließen die Leute ruhig reden u. verabschiedeten uns freundlich von ihnen; die fanden gewiß u. rasch u. sehr willig ins vierte Reich hinüber. Nun gab es (bei wiederholtem kleinem Alarm) ermüdende Wege durch München. Erst zum Umsiedlungsamt in der Thierschstr. Während * E. oben war, besah ich die Isar. E. kam sehr bald mit einer Anweisung auf Aichach. Wir hatten beide den Namen noch nie gehört u. wußten nicht, wo der Ort lag. Dann zum Bahnhof zurück; da gab es Ärger u. Zeitverlust durch Schlangestehen an verschiedenen Schaltern. Statt der uns angewiesenen Freifahrt erhielten wir Billetete auf Bezahlung, u. die später eingesehene Karte zeigte die Unsinnigkeit der Strecke. Die kleine Stadt Aichach liegt an der Querstraße Ingolstadt–Augsburg, aber nur etwa 20 km nördlich Augsburg und etwa 50 südwestlich Ingolstadt. Wir hätten also über Augsburg fahren sollen (oder nach Altomünster u. von dort die paar Kilometer – von Osten nach Westen – nach Aichach wandern sollen). Stattdessen erhielten wir Billette über Ingolstadt, d.h. hoch hinauf nach Norden u. dann im spitzen Winkel nach SW hinunter. Nach Erledigung der Fahrtvorbereitung waren die Lebensmittelkarten im Ernährungsamt zu holen, das weit drin in der Stadt in der Sparkassenstr. lag. Wir fragten uns mühsam durch, u. an der Kartenstelle verging ungemein viel Zeit. Ich wartete wieder unten, das Ruinenmilieu
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