Klemperer, Viktor
hinten am Kantenende des Kirchdachs ein Storchennest lose aufgesetzt, u. einmal sah ich auch einen Storch darauf stehen; u. ziemlich häufig tauchte taucht auch der bedeutendere Turm einer großen gelben Klosterkirche aus der Barockzeit auf, meist in Sönnekenblocks aufgeschichtet u. oben behelmt. Aber auf der Strecke Ingolstadt–Zuchering fehlt das alles. Nichts als tellerflaches, ganz ungewelltes, ganz waldloses Wiesen- u. Ackerland; das könnte ebensogut irgendein Stück an irgendeiner Strecke der Provinz Posen sein. Nischt als Jejend .. Wir kamen am sehr späten Nachmittag, sehr hungrig, sehr müde in das Dorf Zuchering. Kurz vorher hatte es einen Bach mit Weidenufer gegeben, da hatten wir ein bißchen gerastet, uns vor einem Tiefflieger ins Gebüsch geduckt. Neben uns als Wachtposten eines Brückchens hatte ein braungekleideter Soldat gestanden, der auf unsere Frage freundlich lächelnd den Kopf schüttelte. Wir sahen von diesen braunen Ausländern nachher noch etliche u. erfuhren dann, daß es sich um eine ungarische Kompanie handelte. Es waren aber auch deutsche Soldaten im Dorf. Ich stand vor einem Lädchen, in dem * Eva nichts zu kaufen bekomen hatte[,] u. erzählte einem von ihnen unser Schicksal, u. daß wir ausgehungert seien, u. daß E. eben in dem Schlächterladen schrägüber einen letzten Versuch mache, uns etwas zu besorgen. Da beugte sich die Ladenbesitzerin aus ihrem Wohnstubenfenster u. sagte: Wenn Sie nichts bekomen, mach ich Ihnen eine Suppe. Sie können im ‹Somerhaus› ausruhen, Ihr Zug geht doch erst um 10 Uhr Abends. Eva kam erfolglos zurück, wir wurden in die Laube hinter dem Haus geführt u. bekamen eine gute Suppe vorgesetzt. (Nachher verweigerte die Frau jede Bezahlung.) Der Soldat von vorhin, hier einquartiert, der Sprache nach ein Würt[t]emberger, nicht mehr jung u. aus guter socialer Schicht, u. sprach sehr offen von dem fraglos verlorenen Krieg, dem sinnlosen Mord des Weiterkämpfens, dem Größenwahnsinn * Hitlers. Dann verschwand er u. brachte uns ein großes Stück Commissbrod u. ein Viertelpfund Butter als Geschenk. Wir sollten es ruhig nehmen, wo man für mehr als 100 Mann Verpflegung fasse – offenbar war er, was in der Sprache von 1914 Küchenbulle hieß –, da falle schon einiges ab. Wir wanderten dann langsam das letzte letzte Wegstück zur Station hinauf. Um den kleinen Bahnhof herum lagerten auf der Wiese da u. dort Gruppen, Militär u. Civil. Wir hielten es ebenso, bis es zu kühl u. feucht wurde. Der Zug kam in tiefem Dunkel u war übervoll. Es gab ein Gedränge, Erregung, förmlichen Nachtkampf. Wir erzwangen den Eintritt in ein Abteil, wurden erst von den militärischen Insassen sehr unfreundlich aufgenomen, setzten uns gegen eine Bemerkung, das Civil reise noch immer zu seinem Vergnügen, wütend zur Wehr, standen u. hockten sehr unselig. Allmählich aber glättete sich die Situation. Um ½ 2 Nachts waren wir dann in Aichach . Dies wurde nun die siebente u. letzte Wartesaal- vel Zugnacht unserer Fluchttage, aber das Ende der Odyssee war noch immer nicht gekomen.
Am andern Morgen, Mittwoch d. 11. April , begrüßte uns Aichach mit je drei Tassen Kaffee im Bahnhofsrestaurant. Das war eine wohltätige Überraschung. Wir gingen dann in den Ort hinein u. E. verhandelte im Landratsamt. Wir sind inzwischen schon ein Vierteldutzend weitere Male in Aichach gewesen; immer ist der Eindruck der gleiche: ich kann es von Falkenau u. Pfaffenhofen fast nur der Ausdehnung nach unterscheiden – die große Kleinstadt, die kleinere Kleinstadt, die ganz kleine Kleinstadt. Immer legt sich ein fast dörflicher Häuser- u. Straßenring um einen langen patrizischen u. historischen Hauptplatz. Gestern (am 18. 4.) gab ich mir besondere Mühe[,] die spezifische Eigenart Aichachs zu erfassen. Sein langer Hauptplatz ist durch ein in die Mitte gestelltes großes Barock-Bürgerhaus, das rechts u. links eine Straße freiläßt[,] in zwei stumpfwinkelig zueinander liegende Plätze geteilt, die beherrschende Kirche fehlt hier, es liegt nur an der Längsseite ein bescheidenerer Kirchenbau; ein massiges Thor mit massigem Pyramidenturm trägt eine große bunt ausgeführte Inschrift, die von * Johann v. Werth 1 u. von den Kämpfen während des 30jährigen Krieges erzählt. Dicht neben dem Hauptplatz ist liegt ein kleinerer dreieckiger Platz, an das den mit der Rückseite und dem großen gelben Turm die Hauptkirche stößt. (Sie trägt ein Storchnest.) Neben der Kirche liegt das
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