Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
Vom Netzwerk:
Landratsamt, in dem wir mehr als uns lieb ist, sehr viel mehr!, zuhause sind. Auf dem Hauptplatz gibt es vier drei große Restaurants, von denen zwei zugleich Brauereien sind, u. ein Café Mayer (wie in Falkenstein, nur bayrisch May r geschrieben, dicht dabei wohnt der Rechtsanwalt * Stanglmayr). Im Hôtel Gasthof Ziegler haben wir schon ein paarmal gut gegessen – aber manchmal ist Schule in seinem Speisesaal, dann müssen wir ins Stieglerbräu. Bier wird nur an etlichen Tagen ausgeschenkt, Kaffee gibt es fast immer, oft auch Limonade – aber nur hier in der Stadt, die Dorfgasthäuser weisen ab. – * E kam mit diesem Bescheid zurück: München habe uns irrtümlich nach Aichach überwiesen, der Bezirk sei für Flüchtlinge bereits gesperrt; weil wir aber hierseien, wolle man für uns sorgen, nur müßten wir, mit besonderem Empfehlungsschreiben, sogleich zu Fuß nach Inchenhofen weiter. Inchenhofen ist ein Marktflecken, 7 km nordwestlich von Aichach. Hier ist die Gegend nicht so öde wie bei Zuchering, sondern eben jene typisch oberbayrische Landschaft. Das gleiche gilt von Unterbernbach, in dem wir jetzt zur Ruhe – Ruhe für bescheiden Gewordene – gekomen sind.
    Wir kamen gegen 7 Uhr Abends sehr ermüdet u. erhitzt in Inchenhofen an. Eintümlich zeigt es seine Sonderstellung als Markflecken zwischen Dorf u. Stadt. Nichts als Dorfhäuser (ganz, ganz anders als die Industriedörfer bei Falkenstein), nichts als ungepflasterte Dorfstraßen, aber mehrere lang eng bebaute richtige Straßen, die Häuser dicht bei dicht mit den Giebeln (den Schmalseiten), ohne sonderlichen Abstand nebeneinander gestellt. Der ganze Ort hochgelegen, auf dem eigentlichen Höhenkamm der Hauptplatz mit der gelben Kirche, deren schmaler behelmter Turm (der häßliche Gänsehals[,] sagt E.) die ganze Gegend beherrscht u. so auch von hier aus sichtbar ist. Auf meinem Notizzettel finde ich, daß während der Wanderung nach I. ständiger Alarm gewesen, daß man Bombenabwürfe gehört, daß irgendjemand den Wunsch getan habe, wenn sie nur schon kämen, die Amerikaner! Alles dies, der ewige Alarm, das Überflogenwerden von Verbänden u. einzelnen Jägern, die Sehnsucht, die unverhohlen geäußerte, nach den Amerikanern, alles das ist uns in der letzten Woche (heute ist der 19. 4.) eine solche Alltäglichkeit u. Selbstverständlichkeit geworden, es beherrscht so ganz u. ausnahmslos die Atmosphäre hier – u. hier heißt jetzt für uns Aichach u. ein reichliches halbes Dutzend umliegender, durchwanderter u. durchfahrener Dörfer, daß es mir gerade von der Wanderung des 11. April her nicht mehr im Gedächtnis haftet. Ich weiß nur, wie wir in recht desolatem Zustand im Gasthof landeten, u. wie uns die junge Wirtin dort wortlos u. mit beinahe spöttischem Kopfschütteln jeden Bissen u. jeden Tropfen verweigerte, obwohl eine Gesellschaft einquartierter Soldaten ihr reichliches Essen erhielt. Während ich erbittert wartete, ging E. zum Bürgermeister u. kam mit einem Quartierzettel für den Bauern * Joseph Pulver zurück. Dieser Pulver ist nun das bösartigste Subjekt, dem wir auf unsrer Flucht bisher begegnet sind. Ich sagte mir eine Weile lang: der oberbayrische Bauer oder auch der Zolasche französische Paysan, der Bauer überhaupt ist bösartig, er muß bösartig sein, habgierig, geizig, grausam herzlos, weil er zu eng der Natur verhaftet ist. Die Natur ist böse, von Natur; wen sein Beruf an sie fesselt, der muß böse sein u. bleiben oder böse werden. – Ich sagte mir nachher: wer der Bauer sagt, oder der Bayer hat Unrecht. Der Gastwirtin in Inchenhofen steht die Ladnerin in Zuchering gegenüber u. der Polizeimeister in Inchenhofen u. die andere Gastwirtin ebenda. Dem Bauern Joseph Pulver der heilige, * E. sagt der Quäker, * Flammenspeck, 1 der Ortsbauernführer hier in Unterbernbach. – Pulver also, ein verschrumpeltes altes Männchen, schwerhörig oder den Schwerhörigen spielend, accompagniert von seiner * Frau u. einem jüngeren Menschen, der sich nachher drückte, P. las den Zettel mürrisch, sagte dann[,] die Kammer mit nur einem Bett könnten wir haben, alles andere gehe ihn nichts an, er werde keine Hand rühren. Ich bat um Wasser. – Wasser? []Ja, zum Waschen, zum Trinken.[] Nein, er habe kein Wasser, die Pumpe sei in Unordnung. Und der junge Mensch bestätigte, die Pumpe sei entzwei, Wasser habe man nicht. Jetzt trieben mich Wut u. Verzweiflung. E. gab mir die Wohnung des Bürgermeisters am Hauptplatz an. Ein schwerer

Weitere Kostenlose Bücher