Klemperer, Viktor
was wolle man machen? Da sitze ein Mann, u. gegen den kome man nicht an ... Ich erwiderte nichts u. freute mich. – Dann hatte ich noch eine hübsche Fahrstunde am 14/I. Da fuhren wir bei Dunkelheit zwischen 5 u. 6 durch die Stadt, hinauf ins Dorf Dölzschen u. zurück zur Polierstr. Es war meine erste u. einzige Nachtfahrt; sie ging nicht schlecht, u. ich kam recht gehoben nach Haus.
Aber im Übrigen fuhren wir ganze elf Stunden (fast täglich) immer in der City. Manchmal ging es recht gut, manchmal elend. Die furchtbare Angst u. Hilflosigkeit der ersten Male war überwunden, aber ich kam doch jedesmal völlig durchgeschwitzt nach Hause, sehr oft griff mir * L. ins Steuer u. behauptete, ich hätte ohne ihn dies u. jenes Unheil angerichtet, ich führe auf die Hindernisse los, gäbe Gas, wo ich bremsen müßte, etc. etc. Nach einiger Zeit fühlte ich mich recht elend u. gewissermaßen übertrainiert. Ich sagte mir, jetzt müßte ich für mich allein, u. Anfangs in stiller Gegend, üben können. L. aber hatte die Prüfung im Auge u. zwang mich immer wieder in dichtesten Verkehr u. engste Gassen. Die Portikusstraße! Der Pirnaische Platz! – Vor ein paar Jahren starben dicht hintereinander * Ebert 1 u. * Stinnes 2 nach Gallenblasen = Operation. Damals sagte * Annemarie: wären es nicht Ebert u. Stinnes gewesen, da hätte man bei Zeiten operiert, u. sie lebten heute noch! Daran dachte ich oft. Wäre ich nicht der Professor, das kleine große Tier (purtroppo!), so hätte mich Luthe früher in die Prüfung gelassen u. ich wäre weniger verängstigt gewesen u. wahrscheinlich ziemlich glatt durchgekomen .. Am Mittwoch fuhren wir das letztemal. Ich nahm den famosen Porticus der Portikusstraße mit seinen gräulichen Engen u. Schwierigkeiten tadellos, ich hielt mich brav beim Überkreuzen u. Durchfahren der Pragerstr. – aber das Wenden u. Rückstoßen! Immer verwechselte ich rechts u. links. * Luthes letzte Belehrung: Ecken so langsam als möglich, wenn ich Sie mit der Fußspitze anstoße, den Gashebel loslassen! – Am Mittwoch Nachm. sah ich mir noch einmal ein bißchen die Maschine an, die mir noch immer ziemlich geheimnisvoll ist; Verkehrsregeln glaubte ich zu kennen. Am Do. früh ¾ 8 sollte ich in der Kulmstr 2 sein.
Der Do begann schlecht. Ich bin schon eine Weile in Zahnbehandlung, ekelhafte Wurzeleiterung. In der Nacht lag ich gegen alle Gewohneit eine Weile mit Schmerzen wach; um ½ 6 mußte ich aufstehen. Ich machte den Ofen, sorgte für Muschel, für * E s Frühstück, trabte um ¼ 8 weg u. verlief mich. Die Bernhardstr. hinauf bis zur Höhe, unter heftigen Herzbeschwerden, Schlundschmerzen. Um ¾ 8 oben. Und die Kulmstr lag unten beim Landgericht! (15 Jahre Ordinarius der T. H. bin ich nie in den neuen Bauten an der Mommsenstr gewesen!) Ich kam gänzlich aufgelöst, schweißgebadet, mit Schmerzen um 8 unten an – es war reichlich Zeit. Im Wartezimmer vor dem Kassenraum saß en ein reichliches Dutzend Leute, allmählich wurden wir 15. Ein Mädel darunter, die meisten junge Leute, alle jünger als ich, die meisten Arbeiterstand oder so. Von meiner Fahrschule nur ein Herr, Anfangs 40, ein Kriegsinvalide, der einen besonders konstruierten Wagen fährt (Handgas, Bremsen u. Kuppelung verbunden zusamengerückt, da ihm ein Bein fehlt. – Man zahlte an der Kasse 10 M. u. wurde auf Prüfungszimmer verteilt. Ich war mit 5 Leuten zusamen, darunter der Einbeinige. Ein richtiges Klassenzimer, ein Katheder (prachtvoller Blick auf die Höhen jenseits der Elbe!), ein grauhaariger Ingenieur, so österreichisch, daß er durchaus nicht arisch wirkte. Herr Doctor Klemperer – was ist an der Hinterachse? Ich, stolz: das Ausgleichsgetriebe, um den Rädern ... Auch von Kühlung, von Abblenden, von grünem u. gelbem Licht an Plätzen wußte ich etwas. Aber das neue Halteverbot-Schild kannte ich nicht, das Einbein flüsterte mir es zu u. der Ingenieur * Kroh sagte – aber nicht einsagen! Wäre ich nach der Zündung gefragt worden, so wäre es schief gegangen. Aber es ging ganz gut, ich wußte gerade so viel u. so wenig wie die andern, der Prüfende war sehr nett, half überall nach, erklärte – diese Stunde von ½ 9–½ 10 verlief sehr vergnügt. Es war sehr komisch, wie ich da als Prüfling saß, ich o. Prof. u. Senator der T. H, der ich 1914 mit dem Colloquium 1 mein letztes Examen gemacht zu haben glaubte u. in den folgenden 20 Jahren so oft selber geprüft habe. Das Mündliche war also gewonnen. Fahrschule * Strobach
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