Klemperer, Viktor
Brief aus Jerusalem, wo er Versicherungsagent ist.
Einen Nachmittag war hier der Ingenieur u. technische Journalist * Lion , angeheirateter Verwandter u. Freund * Berthold Meyerhofs. Er emigriert nach U.S.A. – ob ich ihm Empfehlungen an meine Neffen geben könnte. Ich konnte es nicht, aber wir nahmen ihn freundlichst auf. Ein ganz sympathischer Mann von 40 Jahren. Fast überzeugt, daß das 3. Reich noch zweistellig lange dauern wird. * Gusti W. dagegen, meist gut orientiert durch Partei u. Ausland, glaubt mit Sicherheit an einen Zusamenbruch in den nächsten Monaten. Es werde aber nichts Gutes (d.h. nichts Comunistisches) folgen.
* Michel Scholz, der Mann der * Agnes, 1 der Bauer aus Piskowitz, kam wie alle Weihnachten, verkaufte uns eine Gans, schenkte uns eine Wurst u. erhielt Geschenke für Agnes. Voriges Jahr hatte er noch von leidlicher Zufriedenheit berichtet. Jetzt spricht er von allgemeiner Erbitterung, teils wirtschaftlicher, teils religiöser Natur. Es ist streng katholische Wendei bei Kamenz. Wir lassen uns nicht Gott nehmen. Eher sterben wir! Sprache im 20. Jh.! Aber ich glaube nicht mehr recht an wirklichen Ausbruch eines Kreuzzuges.
Scholz nahm in einem Kistchen den Onkel mit u. schrieb in diesen Tagen in seinem mühseligen Deutsch: Das Befinden des Onkels ist ganz wohl. Der Onkel ist ein starker wilder Kater, unkastriert. Jahr u. Tag kam er gelegentlich auf Besuch hierher. Vor etwa zwei Monaten bemerkten wir ihn dauernd auf unserm Grundstück, scheu u. doch zutunlich. Er schien schien vertrieben u. heimatlos. Es wurde kälter, die Mäuse mochten verschwinden. Er übernachtete regelmäßig auf dem Abstreicher vor dem Dieleneingang, ließ sich füttern, wurde vertraulicher, vertrieb aber kriegerisch * * Schmidts Peter, lag mit Muschel in Feindschaft, erschreckte durch plötzliche wilde Flucht oder durch Fauchen ahnungslos Kommende. Es wurde noch kälter, * Eva stellte ihm eine Kiste mit Stroh heraus. Wir fütterten ihn, er wurde aber magerer, schmutziger, fror auch, tat uns sehr leid, hatte niemanden außer uns. Nun ist er in Piskowitz gut aufgehoben.
Der Katzenname Onkel stamt aus Heidenau. Wir sehen * Annemarie selten, aber sie zählt zu unsern getreuesten (u. zählt wie wir mit Ver = zweiflung die Tage der Tyrannei). Sie schenkt uns zu allen Geburts = u. Festtagen wertvolle moderne Bücher, mit bestem Geschmack ausgewählt. (Ich habe die Freude an solchem Bücherbesitz ganz verloren. Lexika, Hilfswerke aller Art wären mir lieb, nur solche Sachen noch. ) * Mutter Schaps hat mir aus der Bibliothek ihres verstorbenen Bruders einen vollständigen * Rousseau geschenkt, dazu die Arbeiten * E. Hirschfeldsbergs über * D Alembert u. über die Opernkämpfe im 18. Jh. 1 Merkwürdiges Zusamentreffen: auf diese Sachen wurde ich durch die Arbeit der letzten Monate aufmerksam; die Opernmonographie konte ich nicht auftreiben. Der Autor war, glaube ich, ihr entfernter Verwandter, ein wohlhabender Bankier, der auf alte Tage seine Liebe zur Romanistik entdeckt u. in Leipzig promovierte. Den Disc. prélim. 2 hatte ich in der Landesbibl. gefunden; die Oper wird mir bei * Rousseau 3 Dienste tun.)
Unter den Getreuesten darf ich natürlich die vier anständigen * * * * Köhlers nicht vergessen. In den letzten Wochen waren wir bei ihnen u. sie hier. –
Vom Vorlesen der letzten Monate will ich im Wesentlichen nur die Titel nachtragen.
* Fritz Mauthner: Kraft 4 . Ganz in der Art * Paul Lindaus. Aber psychologisch gut. Eine recht tiefe Kriminalsache.
* Ernst Penzoldt * Chatterton 5 Ist mir zu gekünstelt. Soll u. muß Tragik u. Humor vereinen, moderne Psychologie geben. Die Powenzbande 6 ziehe ich bei weitem vor.
Der Engländer * Maugham: Ein Stück Weges (The narrow Corner) 7 u. Der bunte Schleier. 8 Halb * Joseph Conrad, halb * Rudolf Lindau. Hinreißender Erzähler aus dem Exotikum.
* Cronin: Die Sterne sehen hinab. 9 Ein gewaltiges Werk, komt schwer in Gang, läßt dann nicht los. Das Bedeutendste, was ich bisher von Cronin gelesen habe. Auch das Umfassendste. Politik: Labourparty, Aufstieg u. Sturz, Bergarbeiter. Ungeheuer menschlich u. unbarmherzig. In der Zusamenfassung der politischen Entwicklung vor dem Ende des zweiten Bandes ist das Gewebe menschlich nicht dicht genug. Zu viele Facta als bekannt vorausgesetzt, zu vieles nur angedeutet u. übersprungen. Aber am Schluß wird die Höhe des ersten Teils wieder erreicht. Ein herrliches, reiches Buch, klassisch u. gewaltig.
Dreimal in dieser Zeit im Kino. Am
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