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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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u. ganz offenbar hat er Eindruck gemacht. Wundervoll!, wir sollen die Wiederholung hören. Wir hielten durch, im neuen Europa werden unsere Städte wieder aufblühen. Er hat zwar nicht gesagt, wie der Sieg noch gewonnen werden soll – aber es herrscht hier doch offenbar eine mutigere Stimmung als vorher: Ingolstadt sei starke Festung, u. Berlin könne sich Monate lang halten! – –
    B Die Familie * Flamenspeck, bei der wir zwei Nächte schliefen (zum Freitag u. zum Sonnabend; vom 12. zum 13. u. vom 13. zum 14. April[)], ist durchweg mustergültig freundlich. Der Mann, zweiter Bürgermeister u. Ortsbauernführer (Schild am Haus: Reichsnährstand. Blut u. Boden Darunter Ortsbauernführer) kann sich an Hilfsbereitschaft bei gutmütiger Würde nicht genug tun. Die * Frau sehr willig. Verknittertes Gesicht, eifrig in Bewegung u. Rede, Dialekt bis zur Unverständlichkeit. Eine rundliche ältere Tochter mit etwa 8jährigem Jungen, ihr Mann gefallen. Eine jüngere * Tochter mit 4 Wochen altem * Flaschenkind, um das die ganze Familie beglückt u. zärtlich kreist. Der * Kindsvater dazu ein junger verwundeter Soldat, Arm in der Binde. (Derselbe, der mir sagte, der Leutnant spreche von neuer Offensive, er selber glaube nicht daran.) An der Wand das Bild eines in Rußland vermißten * Sohnes. Der Vater sagt, er sei Nationalsocialist, aber so gehe es nicht mehr, man müsse Frieden schließen, es werde umsonst weiteres Blut geopfert. Vor den Feinden fürchte er sich nicht, obwohl er Nazi sei, denn er habe niemanden bedrückt. Dabei erzählt die * Lehrerin von ihm, er sei der erste u. leidenschaftlichste Natsoc. des Ortes gewesen. – Wir wohnten also die ersten beiden Tage bei Fl.s u. aßen im Wirtshaus gegenüber, wo man, ein junges Paar, er wie ein Blonder von der Waterkant, ebenfalls gutherzig u. defaitistisch gesinnt ist. Die Fl.s sind offenbar wohlhabend, sie haben 8 Rinder im Stall, dazu Schweine u., wie das ganze Dorf, reichlichstes Geflügel. Wie es um ihren Landbesitz steht, weiß ich nicht, aber Brod, Mehl, Eier spielen keine Rolle bei ihnen. Überhaupt, die Eier hier! Sie sind eine Selbstverständlichkeit, obwohl alles über die hohen Pflichtablieferungen klagt. Auf unsere Eierkarten – unsere sind verbrannt, wir hatten ja nur eine! – erhielten wir, wie alle Welt in Bayern, sofort je 16 Stück. 32 Eier Besitz, soviele hat es wohl in Sachsen kaum im Jahr gegeben. Gleichheit der Regionen, Gleichheit der Volksgenossen! Und nach Eierkarte wird hier so wenig gefragt wie nach Kartoffelkarte. Dennoch entstand u. entsteht alle Schwierigkeit unseres Hierseins immer wieder aus dem Essen. Nach zwei Tagen lehnte das Gasthaus es ab, uns dauernd zu verpflegen, unsere Marken hülfen ihnen, den Selbstversorgern, nichts, unser Geld erst recht nichts, das Dorf, das Land sei mit Flüchtlingen überschwemmt, es fehle an Saatkartoffeln, für Juni stehe Hungersnot bevor. Und alle Flüchtlinge kochten selber oder würden bekocht, dort wo sie einquartiert seien. Sie, Wagners, hätten für mehrere Familien zu sorgen, sie wollten uns gelegentlich eine Mahlzeit geben, aber nicht regelmässig und dauernd. Das sei Sache der * Gruberin. Bei der wurden wir nämlich vom 14/4. Abends ab einquartiert u. wohnen wir noch. Ein anderer Haushalt, nicht ärmer als der Fl sche, aber engherziger. Der * Mann der Gruber, einer schwärzlichen kleinen Dreißigerin steht seit 5 Jahren im Felde, der 70jährige Vater * Tiroler 1 zusammen mit einem prisionnier – tailleur de Valenciennes, 2 Nachts im Gefangenenlager – besorgt die Aussenwirtschaft, es ist noch ein niedliches kleines Mädel von 10 Jahren da, * Victoria Tiroler, uneheliches Kind offenbar einer auswärtigen * Schwester. Die Frau Gruber ist nicht eigentlich bösartig, aber engstirnig, geizig u. durch die Situation überreizt. Sie weint: der Mann so lange fort, u. jetzt so schwere Kämpfe an seiner italien. Front – das Brod, das Mehl, das Fett werde nicht reichen, sie sei herzleidend u. müsse zu viel arbeiten, wir sollten selber kochen – aber woher Geschirr nehmen? – oder beim Gastwirt essen. Dann redet ihr der * Flamenspeck zu, oder der aus Kühbach auftauchende * Commissar, oder – seit heute – auch der bisher kranke erste * Bürgermeister, eine halb städtische Persönlichkeit; eine Weile geht es, dann versagt sie wieder, dann sagt sie nein u. kocht doch, dann sagt sie ja u. kocht nicht oder zu wenig – es ist immer eine Unsicherheit, ein Gewerje, 3 ein Hakenschlagen. Dann drängt sie

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