Klemperer, Viktor
(Der Kommissar hatte vorher schon telephonisch aus Inchenhofen mit dem Aichacher Inspektor gesprochen.) Wir stärkten uns durch einen Kaffee u. gingen auf die Suche. Das erste Zimmer war ein winziger Raum ohne Bett u. Bettzeug mit einem nur zum Sitzen Raum gebenden Miniatursopha, mit vielem Gepäck irgendwelcher Flüchtlinge u. allerhand Vorräten darin; die Hausfrau sagte: hierin betreibe sie u. müsse sie ihre Limonadenfabrik betreiben. (Das Schild Limonadenfabrik ist in Aichach, ich glaube, auch in Pfaffenhofen, keine Seltenheit.) Das zweite Zimmer, in einem guten Hause[,] verteidigte – wir waren waren zweimal dort – erst eine ältere Dame, danach ihr riesiger Sohn Hauptmann mit vieler Höflichkeit aber fanatischer Verbissenheit. Er, der Hauptmann, gehe ja Montag wieder zur Front, aber wegen des Zimmers habe das Amt eine Unwahrheit ausgesagt: es sei nicht beschlagnahmt schlechthin, sondern beschlagnahmt für die ausgebombte u. erwartete Familie des Hauptmanns. Das dritte Zimmer lag in einer verschlossenen Wohnung; man könne uns nicht hereinlassen, weil die lungenkranke Inhaberin im Krankenhaus sei; ihre Kinder habe man fortgeschafft, ihre Wohnung sei noch nicht desinfekziert. Wieder zum Landratsamt: dies dritte Haus war wirklich polizeilich gesperrt – offene Tuberkulose –, mit dem Hauptmann wollte man nicht kämpfen. Wir bekamen einen Brief nach Unterbernbach, nur zehn Minuten von der nächsten Bahnstation Radersdorf gelegen; dort kämen wir bestimmt unter.
Ich war in erbitterter Verzweiflung; es würde in Unterbernbach nicht anders werden als in Aichach u. Pfaffenhofen; dazu war es schon spät am Tage, eine Wartesaalnacht oder Schlimmeres stand in Aussicht. Aber wir hatten keine Wahl. Zum Bahnhof also mit dem Gepäck. Dort Kampf u. Flehen, bis wir, versichernd, es sei nur bis zur nächsten Station, uns auf den Militär-überfüllten Perron eines Waggons drängen konnten. Radersdorf ist von Aichach aus die erste Station (nach etwa 7 km) in Nordostrichtung auf Ingolstadt zu. Von da aus geht eine erbarmungslose Landstraße schlängelnd in NW-Richtung nach Unterbernbach, aber nicht 10 sondern sehr reichliche 30 Minuten lang [ nach Unterbernbach] . Wir kamen totmüde dort an, fragten uns zum Ortsbauernführer durch, eine junge Person sagte, er werde bald kommen, wir sollten das Gepäck im Hausflur lassen u. inzwischen im Gasthaus gegenüber sitzen. Von diesem Augenblick an ging es uns gut. Im Gasthaus gab uns eine freundliche * Wirtin Abendbrod. Danach, es war schon fast dunkel, trafen wir drüben B den Ortsbauernführer, den * Flamenspeck, einen grauhaarigen hageren Mann, der sich sofort mit der rührendsten Güte unserer annahm (ein Quäker, sagt * Eva). Mit Selbstverständlichkeit wurden Strohsäcke, Kissen u. Decken für uns auf den Boden der Wohnstube gelegt; dort sollten wir hausen, bis sich ein anderes Quartier für uns im Dorfe gefunden habe. Wir legten uns erleichtert u. beglückt (zumal uns die Wirtin im Gasthaus ein Festessen gegeben hatte, Suppe, Pellkartoffeln, Brod, Käse, Bier). Und wirklich hatte nun die eigentliche Odyssee u. die ärgste Not (wenn auch längst nicht alle Peinlichkeit) für uns ein Ende. (20. 4. 45)
Freitag 20. April 45. Unterbernbach .
Seit einer vollen Woche sind wir hier nun richtig ansässig u. ein wenig zur Ruhe gekomen, ich habe täglich stundenlang an dem obigen Nachtrag schreiben können, wir haben uns wiederholt geruhig, spazierend u. gepäcklos, Tannennudel 1 zur Feuerung sammelnd, ja vorlesend, im wunderschönen Wald aufhalten dürfen, das Schlafen im Bett ist uns wieder eine Selbstverständlichkeit geworden. Freilich fehlt es nicht an schweren Unzulänglichkeiten; das Waschen ist eine halbe Unmöglichkeit u. ganze Dreckerei, mit dem Essen werden wir herumgestoßen, wir müssen es sozusagen erbetteln, am Getränk hapert es sehr, wir sind immer durstig, Aber wir haben doch eine Bleibe, u. das Ende scheint wirklich, diesmal wirklich nahe. Heute ist der erwartete Geburtstag des * Führers. Nach dem gestrigen Heeresbericht scheint oder ist das Ruhrgebiet mitsamt der Armee u. ihrem Marschall * Model 2 darin verloren: Die Schlacht hat ein Ende, mehr nicht, keine Silbe mehr davon. Die Russen stehen im Großangriff, die andern haben Leipzig, Chemnitz, Plauen, kämpfen um Magdeburg. Wo soll noch ein deutscher Gegenstoß von entscheidender Größe angesetzt werden? Und hier in Bayern ist Nürnberg genomen. – Aber gestern Abend hat * Goebbel (sic) gesprochen,
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