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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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uns aus der Küche – jetzt müsse der * Vater mit dem Gefangenen essen, dann wieder bringt sie gute Sachen mit vieler Höflichkeit. Jetzt will uns (u. hat heute damit begonnen) Flamenspeck für eine Weile beköstigen, auch der * Gastwirt will wieder gelegentlich aushelfen. Kurzum: Sicherheit ist nirgends, u. zwischen guten u. nahrhaften Dingen hungern wir manchmal u. haben wir oft Durst. Es widerstrebt mir, diese Seiten nur mit der Esserei zu füllen u. von jedem gehäuften Teller Kartoffeln, von jeder Dampfnudel, jeder Milch, von jeder fehlenden Nachmittagsmahlzeit, jedem fehlenden Getränk einzeln zu berichten. Im Ganzen werden wir satt, reichlicher u. nahrhafter als in Falkenstein, aber gut u. bequem haben wir es dabei nicht. Und um * Evas Knochen hängt vorn u. hinten die Haut in so leeren Falten – Haut u. Knochen, sonst nichts, ist bei ihr eine solche Buchstäblichkeit, daß es mich ängstigt u. bei jedem eigenen Bissen im Gewissen trifft. –
     

 
    Sonnabend 21. April
     
    Gleich am ersten Tag nahmen wir Dorf u. Umgebung gründlich in uns auf. Unterbernbach ist kaum größer als Schwaitenkirchen, zerfällt dabei in zwei durch ein Wiesenstück weit voneinander getrennte Lappen. An der Spitze des uns jetzt entfernteren steht die Kirche mit ihrem großen vom Boden an aufsteigenden Etagenturm, der einen Giebel aus zwei Barockschnecken trägt. Um sie herum der kleine Friedhof. Das Dorf hat keinen Bäcker, keinen Schuster, nichts, nur ein Lädchen, in dem kaum etwas zu haben. Aber das Dorf ist offenbar wohlhabend u. sehr sauber gehalten. Die Höfe alle sehr sauber gefegt, meist ausgedehnt, die Häuser schön weiß getüncht, die Fensterbögen farbig u. ihre Schlußsteine in Complementärfarben, gelb mit blauem rotem Schlußstein u. blau mit gelbem. Überall reichlich Rinder u. Schweine in großen festen Ställen, etliche Schafe, eine Unzahl von Geflügel, Hühner, Enten, Gänse – eine solche Menge jüngster Gänschen habe ich noch nie beisamen gesehen. Beim Gasthof steht eine riesige uralte schon vielfach zerschlagene u. umbänderte Linde, in sie hinein schmiegt sich ein mächtiges dunkles Kreuz mit goldbronzenem Christus u. goldner Maria darunter. (Crucifixe am Wege u. in der Ecke der Bauern- u. Gast stuben überall. Aber Catholicisme superficiel, ils n ont pas de charité, 4 sagt unser Prisonnier, der tailleur de Valenciennes). Überall der Ausblick in die beschriebene oberbayrische Weite. Von Westen her zwischen Waldhöhen der Gänsehals von Inch[en]hofen, ein paar km. entfernt. Ein wunderschönes Waldstück, unser Lieblingsaufenthalt, dicht bei unserer jetzigen Behausung, im Nichtkirchen- u. Nichtgasthausteil. Die Stimmung der Stunden in diesem Wald wäre festzuhalten. Frühling, hohe locker gestellte gerade Kiefern, Schonung verschiedenen Alters, Lichtung mit Wiese u. Acker, Blaubeerkraut, Scopa, 5 Butterblumen, blauer Himmel über allem – u. dazwischen überall Stan[n]iol, u. immer das Surren einzelner Flieger, das tiefe Summen der Kampfverbände, bisweilen das silberne Blitzen sichtbar werdender Geschwader oder kleiner Gruppen, dann das schütternde Krachen nicht allzu entfernter Bombeneinschläge, wieder u. wieder das dumpfe Rollen der Frontgeschütze, einzelne nach Art u. Entfernung undefinierbare Explosionen. Wir liegen unter den Bäumen in Deckung, wir hören die verschiedenen Alarmsirenen, wir sameln Tannenzapfen für den Herd, ich lese vor ...
    Durch dieses Waldstück geht der Weg, leider bald zur baumlosen staubigen Landstraße werdend, in NW. Richtung zu den Dörfern Halsbach u. Hörzhausen. Wir begingen ihn gleich am ersten Tage, damals noch freiwillig, nachher noch einmal notgedrungen, weil Hörzhausen einen Schuster hat. Jedes kleinste Dorf hat eine Kirche u. ein Gasthaus, aber im Gasthaus, wenn es überhaupt offensteht, wird alles verweigert, man hat kein Feuer im Herd – Kohle fehlt, aber an Holz ist Überfluß, es liegt in Stapeln auf den Höfen, es wird als Abfall von allen , Einwohnern wie Flüchtlingen, im Wald gesamelt –, man hat keinen Kaffee, keinen Schluck Milch – man hat schon, aber man will nicht, man hat im Ganzen doch wenig übrig für die fremden Heuschrecken. Und die Landstraßen sind baumlos u. staubig u. Tiefflieger = gefährdet. Es ist kein Spaß, sie zu durchwandern. – Der Schuster ist auch nicht willig. Er arbeitet mit zwei Gesellen, in Werkstatt u. Vorraum liegen Haufen auszubessernder Stiefel. Aus Gnade näht er mir für zwei Groschen eine Naht an den

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