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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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ließ uns gestern bei sich im Asamhaus den Heeresbericht hören. Die Bauernwohnstuben ähneln einander sehr, auch sehr denen in der Wendei: Nie fehlt die Cruzifixecke, nie fehlen die Bilder aus der Militärzeit.
    Bei der * Gruberin haben wir eine Bodenkamer, ganz ähnlich der bei der * Agnes. Auf dem Bodenraum nebenan liegt in losen Haufen Futtergetreide. Das Bettzeug ist zu schwer u. dick, die Waschgelegenheit fehlt – man nimt sich Abends einen Eimer Wasser mit hinauf, man wäscht sich morgens in der Küche – aber da frühstücken schon der * Alte u. das * Mädel ihre Brodmilchsuppe. Eine große Rolle spielt Schneewittchen, der gläserne Nachttopf, hier ein salonfähiges Gerät – (das war er beinahe schon im Haushalt * * Stühler, Dresden, wie oft zog feu Stühler mit ihm über die Diele ins Örtchen!) –, das man morgens in den Garten entleert u. dort bis zum Abend im Luftbad stehen läßt, * E. hat Schneewittchen auch schon Abends einmal Nachts durchs Fenster ausgegossen. Wir essen, soweit wir hier zu essen bekomen oder uns zu richten vermögen, also die Morgenbrodsuppe u. die Nachmittagsmilch oder den Nachm.-Kaffee in der Küche, ich schreibe meist in der Wohnstube, nur morgens in unserer Kamer, wo der Tisch zu dicht belegt u. die Bank zu wackelig ist. Vater Tiroler u. Tochter Gruber sind durchaus defaitistisch. Vater Tiroler ist nicht einmal auf den * Göbbel hereingefallen, der auf * Flamenspeck immerhin Eindruck gemacht hat. (Ich soll diese Geburtstagsrede noch hören, sie wird im Radio wiederholt werden; bestimmt werde ich sie im Aichacher Blatt lesen.) Die interessanteste Person im Haus ist der französ. Gefangene, der Schneider aus Valenciennes, der mit einer Gefangenengruppe neben dem Gasthaus wohnt u. hier – seit zwei Jahren – verköstigt wird u. in Arbeit steht. Ein Vierziger, blond, unfranzösischer Typ, bartlos feines Gesicht mit großen grauen Augen, sehr feines Französisch, durchaus gebildete Art, eine leis spöttische geistige Überlegenheit. Ich verstehe ihn ziemlich gut, es gelingt mir auch täglich besser selber zu sprechen. Wir haben uns schon hier hier im Haus schon mehrmals, wir haben uns einmal besonders ausführlich im Wald unterhalten, wo er ‹souche 1 › suchte. Er sagt, er selber u. La France in ihrer majorité sei durchaus démocratique u. gegen jede Dictatur,ni ni * Pétain, ni * Stalin 2 (sprich: líhn). Die französische Hungersnot sei deutsche Propagandalüge, in Lille seien die Zustände schon wieder normal. Das Régime * De Gaulle sei naturellement provisoire, die entscheidenden élections müßten natürlich erst après le retour des prisonniers 3 stattfinden, u. sie, die prisonniers wollten für die Verhütung weiterer Kriege eintreten. (Ich wies etwas resigniert auf das Niemals wieder Krieg! von 1918 hin.) Die französische Niederlage von 1940? Nicht trahison, 4 auch nicht Schuld eines Einzelnen, sondern die unselige Spannung zwischen rechts u. links – die Rechte wollte den Krieg nicht – u. die völlig mangelhafte Ausrüstung des Heeres. In seinem Regiment, das in einer Grenzfestung lag, hätte das Wichtigste gefehlt; irgendwelche Minenfelder waren nicht in Ordnung, irgendwelche Minenwerfer u. Mg. s nicht vollzählig. (Hier verstand ich ihn nicht im Einzelnen.) – Er klagte über den Geiz der * Gruberin, die ihn mit Essen knapphalte, was zu unseren Erfahrungen passte; er klagt über die Härte der Bauern hier en général, er sehnt sich nach der besseren cuisine française. – Im Gefangenenlager höre er immer mehr über die militärische Situation[,] als der deutsche Rundfunk bringe; irgendein Kamerad sei immer unterrichtet. Auf welche Weise, sagte er natürlich nicht. Es hieß vorgestern im Heeresbericht lakonisch u. epilog[ h ]isch, die Schlacht zwischen Rhein u. Ruhr sei beendet, die tapfere Armee unter Generalfeldmarschall * Model habe den Feind wochenlang gebunden. Heißt das, sie hat nun capituliert, sie ist gefangen? Ich frage alle Welt, ich fragte auch den tailleur. Er hoffe mir bald Antwort geben zu können. Natürlich sind solche Gespräche lebensgefährlich, aber vielleicht macht gerade das ihren Reiz aus. Übrigens meint der tailleur: en peu de semaines ...
    Eine noch interessantere (u. ausgibigere) Bekanntschaft als der Gefangene sind die Lehrerin * Frl. Haberl u. ihre verheiratete Schwester * Frau Steiner. In Aichach gibt es keine Leihbibliothek u. die öffentliche Volksbibliothek ist nur am Abend geöffnet, also für uns unzugänglich. So

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