Klemperer, Viktor
suchten wir das Schulhaus auf, ich stellte mich ruhig als der ich bin vor. Zuerst empfing uns die junge Frau Steiner. Sie zeigte ihre Bücher, mir fielen einige * Voßlerbände auf u. gaben sofort Anknüpfung. * Herr Steiner, 1 z. Zt. im Dienst in Ingolstadt, habe einen jungen Kunstverlag, er war früher im Zeitungsverlag tätig, konnte das nicht mehr mit seiner Überzeugung vereinigen, man sei streng katholisch – ich fand deutsche Übersetzungen von * George Bernanos 2 u. * Ernest Hello 3 ! – Voßler habe dem Verlag etwas versprochen .. ob ich PG sei? Mir wurde wohl ums Herz, u. ich antwortete diplomatisch, ich hätte ja schon gesagt, ich sei Schüler u. Verehrer Voßlers, da könne man sich denken, wie ich zum Régime stünde. Hier etwa erschien die * Schwester Lehrerin, u. sie bot die größte Überraschung. Frau St. ist eine weiche dunkeläugige sozusagen harmlose Erscheinung; die Schwester mit ihren starren blauen Augen, ihrer ausgreifenden Blondheit, ihrer straffen kurzen Kleidung u. fast militärischen Haltung, hätte ich bestimmt auf übernazistisch taxiert, auf eine fanatische BDM-Führerin, auf ein Flintenweib, auf eine nazistische Partisanin. Ihre brüchig rauhe Stimme passt zu alledem. Les extrêmes se touchent: das Mädel ist eine bis zur äußersten Unvorsichtigkeit – hier muß ich schon sagen: fanatische Gegnerin des 3. Reichs. Wenn Sie über die Sprache des dritten Reichs schreiben, vergessen Sie Dachau nicht. In den letzten 3 Monaten sind dort 13 000 Leute gestorben, die meisten an Hunger, u. jetzt entläßt man den Rest, weil man nichts mehr für ihn zu essen hat. Bis zum Buchstaben H ist die Entlassung schon vorgeschritten. Beide Frauen erzählten von * Cossmann, dem 100%igen, der in Theresienstadt gestorben sei. Wir taten, als wüßten wir nichts von Theresienstadt, u. waren geradezu erschüttert, den Namen hier im centralen Oberbayern, im Dorf, zu hören. Wir erhielten Lektüre – ich lese jetzt den grandiosen Großtyrannen von * Bergengruen 4 vor – wir erhielten zwei Eier als besonderes Gastgeschenk u. wurden zum Wiederkomen aufgefordert. Wir gingen am Abend des 19. um 8 h hin u. hörten dort den Heeresbericht. Ich sagte, heute würde * Goebbels sprechen. Man sollte ihn zertreten! erwiderte die Lehrerin. Sie war allein, die * Schwester auf Besorgung. Wir wollen heute Abend wieder hin; verschiedene Fliegerangriffe auf Ingolstadt geben guten Vorwand, sich nach dem Befinden des * Herrn Steiner zu erkundigen. Auch die beiden Schwestern sind der Meinung, es könne nicht mehr lange dauern; ich selber bin inzwischen wieder zweifelhaft geworden.
Beim * Flammenspeck traf ich neulich einen älteren süddeutschen Landesschützen – er erklärte: Art Landsturmdienst zur Zeit Frontunfähiger, die von der Front komen u. zu ihr zurückkehren. Der Mann, in Typus u. Wesen rabiat, bestimmt kein Heuchler, war vollkomen überzeugt von der * Hitlersache u. ihrem endgiltigen Sieg. Wie die Wende komen werde, das wisse er nicht, aber er wisse, daß sie komen werde. Adolf Hitler habe es noch immer geschafft, man müsse ihm blind glauben, man glaube an so vieles blind, das sich viel weniger bewährt habe als der Führer. Neulich habe ihm eine Ausgebombte gesagt, das danken wir dem Führer! Er habe sie zusamengeschimpft: ohne IHN wären Sie nicht ausgebombt, sondern längst Hackfleisch! Mit dem Rechenstab u. mit dem gesunden Menschenverstand sei es nicht zu erfassen, damit sei überhaupt nichts anzufangen – man müsse nur an den Führer u. den Sieg glauben! Ich war doch recht bedrückt von diesen Reden. Wenn dieser Glaube verbreitet ist, u. es scheint doch fast so ... Die * Haberl widerum sagt, die deutsche Armee sei in Zersetzung, u. es gehe zu Ende. (Tasächlich besteht ja Deutschland heute am 21. April im Grunde nur noch aus einem weitgefaßten Großberlin u. einem Stück Bayern.) Die Haberl sagt aber auch: ich fürchte nur noch den deutschen Soldaten.
Am Mittwoch d. 18 April waren wir noch einmal in Aichach . Mit vielem Mißerfolg. Wir hatten befürwortete Bezugscheine für etwas Kochgeschirr, für Schuhwerk – kein Bettler ist so armselig daran wie wir! – für eine Joppe, für etwas feminines Unterzeug. Es sollte das gleich geben; es soll nun mindestens 8 Tage dauern, ehe die Scheine auch nur ihre nötigen Stempel haben. Es gab nirgends Rauchzeug. * E. leidet unter dem Tabakmangel noch schwerer als sonst, seit sie böse hustet; sie liest jeden zertretenen Stummel von der Straße auf u. raucht ihn in
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