Klemperer, Viktor

Morduntersuchung auf die ganze Stadt übergreifen, aus der Welt zu schaffen. Überheblichkeit u. zugleich Bequemlichkeit, urteilt der Großtyrann; Sperone habe durch einmalige Tat, durch jähes Martyrium der Verpflichtung dauernder Heiligkeit sich entziehen wollen. Aber Don Luca klagt den Großtyrannen selber an: Du hast Dich als Gott gefühlt, Du hast mit uns gespielt, uns in Versuchung geführt, uns in Sünde getrieben! – Ein allgemeines Insichgehen, eine allgemeine Versöhnung macht den Beschluß.
    Für mein gegenwärtiges Thema ist mir an diesem Roman das Folgende wichtig:
    1) Der Renaisssancemensch wird hier grundsätzlich anders aufgefaßt als bei * Schnitzler u. dessen Generation. Dort ist das Charakteristikum: die amoralische Freude an der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit, am individuellen Sichausleben. Bei * Bergengruen liegt der Nachdruck nicht auf dem Sichausleben, sondern auf der Willensstärke; man mordet macchiavellistisch, wo man es für nötig hält, aber man ist nicht amoralisch, man ist ständig mit seinem Gewissen beschäftigt, in jedem bedeutenden Individuum sind * Savonarola u. Principe vereint vorhanden. Renaissance heißt hier: verstärkter Wille, verstärkte Denkklarheit, aber auch verstärktes persönliches Gewissen.
    2) Die Gestalt des Großtyrannen, des Principe, wird zu einem Ideal- * Hitler gemacht. Der Mann hat Machtwillen, ist Tyrann – aber er ist es, um ganz Cassano zu heben, das unter demokratischer Herrschaft verfiele.
    3) Der Großtyrann verficht gegen den Idealisten des absoluten Rechts das irdische Recht der Staatsnotwendigkeit; es komt auf den natsoc. Satz hinaus: Recht ist, was meinem Volke nützt. In diesen Auseinandersetzungen liegt die größte Zeitnähe des Buches, oder, sozusagen, die contrahierteste. Denn die alles durchtränkende Zeitnähe ist in Punkt 1 gegeben, im Zusamenziehen von Principe u. Savonarola.
    4) Unmittelbarer Bezug zur LTI. Eines der Lieblingswörter der LTI ist kämpferisch . Analog zu kriegerisch , doch neugebildet u. mit umfassenderem Sinn. Die Bildung: isch an Substantiva auf er gehängt, ist nichts neues: zweiflerisch, verschwenderisch, (be)trügerisch etc. Bergengruen schwelgt geradezu in Neubildungen dieser Art: Urteilerisch, prüferisch, zuschauerisch, ausplauderisch, unterhändlerisch, verstörerisch 203. Daneben auch: verstörlich 190, ohne daß beides scharf voneinander getrennt wäre), beschwörerisch, schleicherisch, jüngerlich. – Ist Bergengruen in dieser ganzen floraison 1 von kämpferisch ausgegangen? Klingt ihm, klingt dem Natsoc. diese Bildung vielleicht besonders männlich ? (Immerhin liebt B. auch andere Neubildungen: verstörlich, jagdlich ..; aber die Analogie zu kämpferisch steht weitaus primo loco.)
    Das Compliment vor der natsoc. Rechtsauffassung ist am stärksten in dieser Frage des Großtyrannen an Diomede formuliert: bist du der Meinung, es sollen Urteile gefällt werden im Namen u. nach dem Bilde einer irgendwo über den Wolken schwebenden Gerechtigkeit? Und ohne einen Bezug auf die Besonderheiten, die Bedürfnisse u. die Bedingnisse des Gemeinwesens, in welchem die zu Urteil stehende Übertretung geschehen ist u. das Recht gesprochen werden soll? 180 (Aber es ist ein anderes, ob ich um die naturgegebene Unerreichbarkeit eines Ideals weiß, oder ob ich es als Ideal grundsätzlich leugne u. bekämpfe!!) – Eine zweite Huldigung vor dem Nazismus: Der Tyrann wird in seiner Eigenschaft als Tyrann gefeiert u. Diomede zieht die Tyrannis der Parteiherrschaft oder Demokratie vor. – –
    Noch ein eigentümlichstes Zusamentreffen. Es ist die Rede von einem fromen u. geistesverwirrten Ketzer, der für den Teufel gebetet u. Messe gelesen wissen wollte, der zuletzt meinte[,] dies sei eine vornehmlichere Obliegenheit als alle anderen christlichen Pflichten, da doch niemand der Fürbitte in einem solchen Maße bedürftig sein könne wie eben der Satan 253. * E. sagte spontan: * Cossmann!! 2
    Der Tyrann ( * Hitler) vollführt nicht nur den offenbaren Willen des Volkes sondern auch einen ihm selber verborgenen Willen. So bin auch ich der verborgene Wille des Volkes (wie es der verborgene Wille des Weines ist, als Trank auf Fürstentafeln zu schimmern, im Kelch zur Erlösung der Welt zu werden ... 217. Cf. Europa-Mission!!)
    Verherrlicht wird der Wille zur Macht. Auch ist es besser, Ahnherr zu sein als Enkel 218. Über Parteien muß der Tyrann hinweggehen.
    Schließlich sagt der Großtyrann : Es wird ein Stück von Gott selbst