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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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Hier-Erscheinen der Amerikaner rechnen. Auch sollten die Hj u. manche andere Formation noch an diesem Abend den Ort verlassen. (Auch hat – unglaublichste Sache, aber buchstäblich wahre! – der * Bürgermeister das über dem Wappen im Giebel des Amtshauses angebrachte Hakenkreuz entfernen lassen!!) Nach dem Essen gingen wir noch einmal in den Ort, um ein Stümpfchen Licht aufzutreiben. Vergeblich bei * Asam, vergeblich beim * Gastwirt Wagner, vergeblich beim * Flambeck. Auf dem Platz an der Linde im Dunkel, das der spät aufgehende Vollmond nur erst wenig überhellte, ein großes phantastisches Gedränge von abmarschbereiter Truppe, Wagen u. Bespannungen. Eine Frau klagte, ihr Rooß müsse sie fahren lassen u. wer bürge ihr für seine Rückkehr? Auch sei ihr Bruder fort, u. die Amerikaner könnten schon diese Nacht komen .. Vor unserem Hause, beim * Tyroler, hatte die Hj eine ziemlich ordentliche Appell-Aufstellung genommen, zu ihren Kolonnen gehörten kleine bepackte Handwagen. Von unserem Dachfenster aus hörten wir die Ansprache eines Führers mit an: sie sollten die Nacht über 30 km marschieren, in dieser furchtbar schweren Zeit müßt ihr noch ganz anders u. viel strengere Disciplin halten als bisher! Es schlug 10 Uhr, als sie abmarschierten. Um 12 h weckte uns schweres nahes Krachen, in das sich ein übles Geschoßsausen mischte. Wir sprangen aus den Betten u. knieten unter den Fenstern in Deckung. Nach einiger Zeit legten wir uns wieder hin, halb angekleidet, um, wenn es zu arg würde, gleich zum Asam-Bunker hinüberzukönnen. Eine Weile Schlaf, dann wieder Krachen u. Heulen u. wieder aus den Betten. Auf der Straße war ständiges Fahren zurückgezogener Truppen. Einmal bog ein schwerer Camion in unseren Hof, blieb dort, gefährlicher Gast, bis gegen Morgen, worauf wir ihn fortrasseln hörten. Beim zweiten oder dritten Mal zog ich nur noch Torturschuhe u. Strümpfe aus, schlief dann aber ein bißchen abgestumpft u. sehr müde bis nach 5 h. Dem Geschoßheulen gegenüber, das nur bei einer bestimmten mittelstarken Detonation zu hören war, hatte ich successive drei Empfindungen. Erst glaubte ich, Splitter führen auf mich zu; dann erkannte ich erleichtert, daß eine deutsche Batterie dicht hinter unserm Wäldchen etwa bei Halsbach postiert, feindwärts schoß, u. dann wurde aus der Erleichterung neue Furcht, denn wenn die Amerikaner diese Batterie unter Feuer nahmen, geriet Unterbernbach in die Geschoßbahn. – Die Nacht nahm uns recht sehr mit, aber am Morgen war es fast ruhig. Und nun kam der sonst so ruhige u. vorsichtige tailleur in strahlender Freude u. Erregung u. erzählte: von München aus habe un vieux * général die Capitulation Bayerns angeboten, es sei ganz gewiß, u. für uns hier hätte der Krieg ein Ende. Die Nachricht war gar nicht so unglaubwürdig, wie die Dinge liegen, u. nach ein paar Minuten kam der tailleur, der mich erst um Verschwiegenheit ersucht hatte, noch strahlender wieder, die Nachricht sei bereits im ganzen Dorf bekannt, ich möge ruhig davon sprechen. In seiner Beglücktheit redete der Mann in äußerster Geschwindigkeit – Politik, Familie, Deutschland, France, sein 16jähriger Junge etc. etc. etc.; ich verstand ganze Sätze nicht, ließ ihm aber seinen sfogo. 1 In all der Zeit regnete es in Strömen, schwieg aber die Kanonade. Wir gaben uns der Hoffnung hin, Bayern habe wirklich kapituliert. Dann setzte die Enttäuschung volltönig ein. Sehr nahes Geschützfeuer, dazwischen MG u. ganz nahes Gewehrfeuer. Also war es nichts mit der Capitulation, nichts mit dem völligen Abzug der Wehrmacht. Eine Weile las ich trotz der unheimlichen Situation in unserm Zimmer vor, eine Weile suchten wir an den geschütztesten Stellen der Küche Deckung, cf. 3. V., schließlich in einer Feuerpause wagten wir uns hinüber in den * Asambunker, der dicht bei uns liegt. Sein Eingang blickt über eine Wiese hinweg auf den ominösen Waldstreifen zwischen uns u. den Dörfern Halsbach u. Hörzhausen. Von dorther hörte man ein häufiges ganz nahes Groß-, Mittel- u. Kleinschießen, dazu ein ständiges Rollen. Das sollten die amerik. Panzer sein, zu Gesicht habe ich keinen bekommen. Wir saßen mit ziemlich vielen Frauen u. Kindern im gutgeschützten, aber ziemlich dunklen u. kalten Raum; die Leute hatten reichliches Essen für sich da, u. wir hungerten u. versäumten die Tischzeit beim * Flamensbeck. Nach etwa 2 Stunden trieb uns der Hunger nach Hause, das Schießen hatte nicht aufgehört, war aber

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