Klemperer, Viktor
seltener geworden. * E. machte uns einen Kaffee u. legte sich dann zu Bett, sie ist leider sehr mitgenomen; ich las eine Weile vor[,] dann ging ich auf Erkundung zu Flamensbecks u. ins Schulhaus, wo ich das * * Ehepaar Steiner traf. An beiden Stellen erhielt ich hal bwegs beruhigende Auskunft: die Panzer seien schon bis Kühbach vorgestoßen (hätten übrigens einem überholten Bauernfuhrwerk kein Leid zugefügt), bei uns hier sei die Wehrmacht zurückgezogen, es sei also kaum anzunehmen, daß Unterbernbach beschossen würde, keineswegs brauche von vornherein der Bunker aufgesucht werden. (Das war mir um so lieber zu hören, als E. sich ernstlich leidend fühlt u. gar nicht zum Abendessen aufstehen mag.) Durch das Radio sei heute morgen wirklich gekomen, daß * Epp in München verhandle. 2 (Doch hatte mir * Tyroler Mittags angstvoll erklärt, das seien Lügengerüchte, u. unter der kämpfenden Truppe befinde sich. [ ( ]fürchten sie mehr als Russen u. Westmächte zusamen.) – Es ist jetzt sieben Uhr, E. liegt schwer mitgenommen u. will ausschlafen. * Frau Flamensbeck hat mir als Ersatz für das ausgefallene Mittagessen eine große Schnitte Schweinebauch mitgegeben. Damit u. mit Brod will ich mir nur den Hunger vertreiben, u. dann muß ich sehen, wie ich ohne Licht über den Abend kome – schließlich ging das im Polizeigefängnis Dresden auch. Ich bitte den Himmel nur, daß er uns diese Nacht nicht vor die Notwendigkeit stellt in den Bunker zu gehen. – – Flieger hatten wir tagüber nur ganz selten u. in Einzelexemplaren da. Der um sein Schicksal sehr besorgte tailleur sagte mir: die amerikanischen Tiefflieger schössen nicht auf Civilisten; es seien aber auch französische Avions de chasse hier eingesetzt, u. die frz. Tiefflieger übten an Civilisten Vergeltung für deutsche Brutalitäten in Frankreich.
Sonntag 29. April 45 Unterbernbach. Morgens
Allgemeine Te Deum laudamus = Stimmung. 3 Ich schlief angekleidet, es war nicht nötig. Nur aus weitester Entfernung, näher an München als an Aichach, hörte man noch Kanonenschüsse. Für hier ist der Krieg fraglos vorüber. – Die * Gruberin sagte: Uns haben s belogen, moanens daß nun besser kimmt? und: Der Franzos wird a Freud haben! Die kleine * Vicky fragte, ob man noch verdunkeln müsse. Der tailleur (den ich noch nicht gesehen habe) drückte sich mit * Eva feierlich die Hand. Ich selber habe im Tiefsten das Gefühl der großen Erlösung, das nur gegen die kleinen Unannehmlichkeiten der Situation – Schmutz, mangelndes Besteck, mangelndes Getränk, mangelnde Pflegemöglichkeit für den Daumenabsceß etc. etc. – nicht recht aufkomen will. Auch hat sich in den letzten Tagen die Angina wieder gemeldet. Aber über allem steht doch als ein Triumpfgefühl: wir haben diese unglaublichen u. unsäglichen Gefahren wirklich überstanden. Es ist eine Art Auserwähltheit. Ich möchte gerne sagen: nächst Gott danke ich das Eva. Aber Genaueres weiß ich doch nur von E., u. der andere Faktor ist mir ein noch fragwürdigeres Fragezeichen als je zuvor.
14 h. Von gestern noch zu erwähnen: das Cruzifix an der sauber verschalten Wand des * Asam-Bunkers. – Und nun der ungeheure Umschwung heute, in allem sich offenbarend. Der alte * Tyroler, gestern noch angstvoll das * Epp-Gerücht widerrufend u.: es isthier!, spuckt heute seinen Haß gegen die Partei u. gegen dieaus. In einem Dorf an der Donau hat ein Bauer eine Panzerfaust aus seinem Haus fortgeschafft u. in die Donau geworfen. Bürgermeister u. Ortsbauernführer sind für ihn eingetreten. Alle drei, weil sie die Interessen des Vaterlandes verraten haben, hat dieaufgehängt ... Und wie sie gegen die Religion vorgegangen sind! Und die Hitlerjugend .. Gegen die Bolschewisten waren sie u. selber bolschewistisch! ... Die Gastwirtin * Frau Wagner strahlend ... Bei * * Steiners, bei * * Flamensbecks gleiche Stimmung. Der alte Fl. Leidenschaftlich: sie seien zu radikal gewesen, sie seien vom Program abgewichen, sie hätten die Religion nicht geschont .. * Frau Gruber: Der * Pfarrer habe so schön gepredigt: Dank daß wir die letzten Tage heil überstanden, aber wir sollten uns nicht überheben unglücklicheren Dörfern gegenüber. Frau Steiner: der Pfarrer habe wie immer sehr schön gepredigt, aber die Gruberin habe ihn falsch verstanden. Ich sollte den Pfarrer Moll, einen firmen Altphilologen, doch einmal besuchen. Das hat mir der junge Asam auch schon geraten .. Wir hatten uns auf einem kleinen Morgengang beim
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