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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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Wandplakat, gegen * Churchill gerichtet, mit der übergroßen Schlußzeile: Ich zweifle keine Sekunde, daß Deutschland siegen wird, ein sehr großes zerrissenes * Hitler-Bild – (dies lag gesondert, denn noch vor der Unmenge von Pappstücken u. Cartons wanderte es in unsern Ofen) –, eine große Anzahl leerer u. zerbrochener Bilderrahmen, in denen fraglos der Führer u. seine oberste Gefolgschaft gesteckt hat, Hakenkreuzfähnchen, leere, zerbrochene Flaschen usw. usw. Ich fand hier u. erklärte ihn zum ersten Stück meiner neuen Bibliothek Michel s Briefmarkenkatalog Großdeutschland 1944/45, eine wahrhaft kulturhistorisch wertvolle Publikation. – Genau über unserem Fenster hat war draußen das Hakenkreuz angebracht – es war –, auf dem Keilkissen der Waffen-habe ich geschlafen, ich , und in unserem Ofen brannte das Hitlerbild; es ist, trotz aller momentanen Schwierigkeiten u. guai (zu denen Kälte, Regen u. aufgeweichte Straßen sehr vieles beitragen), eine Freude zu leben.
    14 h. Der Saal unten war Schlafsaal des Kinderheims – das Heim nennt die Bevölkerung den ganzen Bau, den sie als Gemeinschaftbau erst in den letzten Jahren in gemeinsamer Zwangsarbeit fertiggestellt hat, aus dem Nordfenster des Ganges hier oben zwischen den Zimmern u. dem Bodenraum sieht man auf das dichtbenachbarte große Pfarrhaus, das erstaunlich u. viel zu große gelbe massige u. regelmäßige Gebäude: damit ist denn wohl alles über unsere neue Behausung gesagt.
    Den ganzen Tag, vom ziemlich zeitigen Vormittag an, haben wir gestern an diese Wohnungsaffaire gesetzt, u. schon seit dem gestrigen Abend ist es wieder unsicher, wie lange wir unsere Häupter hier werden hinlegen können. Ich praepariere andauernd einige Phrasen wie: Please[,] Sirs, would it not be possible to let us this room? We have really not where to put our old heads, the whole village ist full of fugiti[ves] 1 ... Aber es scheint, als seien gar nicht die Amerikaner selber zu fürchten, sondern das Unheil könnte ausgehen von dem ersten * Bürgermeister, von dem niemand weiß, ob er noch im Amt ist oder nicht – die Am. haben ihn freigegeben, er sitzt auf seinem Gut in Reifersdorf u. soll morgen hier erscheinen; er lebt mit dem zweiten Bürgermeister, id est * Flamensbeck, u. mit der Gemeinde, die er tyrannisiert hat, in Zwist, er hat das Amtshaus für beschlagnahmt erklärt, er scheint es als Beleidigung zu nehmen, daß Fl. inzwischen aus eigenem mich hineingesetzt hat, eine frühere Sekretärin soll sich beschwert haben ... chè sò io? 2 Jedenfalls leben wir wieder in der Schwebe – aber für lange dürfte ja hier nichts mehr sein.
    Gestern Vorm. also berieten wir essen beim frühen Mittagbrod mit Fl. u. * Asam; dann zeigte uns * Wagner im großen Gasthausbau drüben die großen aber kahlen u. öde verfallenen Dachräume, in denen die Franzosen gehaust hatten – Wachlo ck al – stand an einer Tür; in einem Raum waren zwei schmale Bettschragen übereinander, im Nebenraum stand ein Ofen. Alles andere fehlte, u. Wagner wollte uns nur sehr ungern aufnehmen u. verwies uns immer wieder auf das Heim. Wir verblieben dann, daß der Franzosentrakt nur im äußersten Nofall unser Schlupfwinkel werden sollte, u. wanderten mir Fl. u. Asam hierher. Zwei Betten aus dem unteren Saal schafften wir herauf, Fl., Asam u. ich gemeinsam tragend, danach machten * E. u. ich einen erfolgreichen Bettelbesuch beim * Pfarrer. Seine * Schwester half mit einer Waschschüssel, zwei Töpfen, drei Kaffeebechern aus, legte ein paar Schweinswürste dazu – Schicksal Schwein überall! –, wir klagten auch unser Leid über die unchristliche Gruberin. Während später E. den Ofen u. eine Kaffeemahlzeit herrichtete, schaffte ich von Fl. u. Wagner einen Milchkübel – aber Milch selber ist zur Zeit nicht aufzutreiben! – u. zwei Wolldecken heran, die zusammen mit den zwei schon vorher entliehenen jetzt unser ganzes Bettzeug ausmachen; d.h. Laken u. Überzeug hat die gute Pfarrersschwester, Frl. Moll, noch hergegeben. Den eigentlichen Umzug von der * Gruberin fort bewerkstelligten wir in zwei Dreck- u. Regengängen zwischen Mittag u. Kaffee, u. vor dem Abendessen. Zwei Gänge waren nötig, denn es hatten sich ja Vorräte an Esswaren u. an Tannennudeln angehäuft.
    Von der hysterischen Gruberin, von * Kätchen Voß villageoise, 1 gab es einen versöhnlichen Abschied: sie brachte ein vorbereitetes Päckchen Geschlachtetes an, Wurst u. ein großes Stück rohes Schweinefleisch, das jetzt auf

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