Klemperer, Viktor
Plötzlich ging das schon gewohnte Geschützfeuer in ganz nahes Krachen u. in das Knallen einzelner Schüsse über, E hörte auch das Pfeifen einer Kugel – offenbar wurde nun an unserem Waldrand, vor unserem Dorf, unserer Ecke gekämpft. Wir eilten hinunter, das Haus stand leer, man war schon im Bunker, man hatte uns vergessen. Wir standen u. saßen eine ganze Weile in eine Küchenecke gedrückt, die uns die sicherste schien. Allmählich ließ das Schießen nach u. wuchs der Mut. Wir wollten zum * Asambunker hinüber – neues Schießen ließ uns an der Außenseite des Asamhäuschens Deckung suchen; erst eine lange Weile später wagten wir die restlichen paar Schritte zum Bunker. Diese paar Schritte Durchgang zwischen den Hofgebäuden führten freilich auch geradewegs feindwärts, denn man sah auf die Wiese u. über sie hinweg auf den Waldrand, aus dem die Amerikaner komen mußten. Danach saßen wir dann im Bunker, manchmal steckte ich den Kopf heraus, ohne etwas zu entdecken, die * Bauersfrau holte Essen für ihre Leute, wir hungerten, u. so gegen 2 Uhr trauten wir uns wieder heim u. machten uns einen Kaffee. Das Dorf war über = , genauer um rollt worden, nur am Rand unseres Waldstreifens hatte eine kleine letzte Soldatengruppe noch ein paar Minuten Widerstand geleistet, bevor auch sie geflüchtet war. Der Krieg lag hinter uns, während wir ihn noch vor uns glaubten. –
Beim Mittagessen sagte uns Asam, u. danach wiederholte es mit großer Bestimmtheit der düstere * Staringer, unser Vis-à-vis hier, der E. s Schuh nagelte – aber nun klafft auch der meinige! –, Hitler sei tot, 3 dies sei, ohne nähere Angabe, durchs Radio gekomen (durch welches??). Asam aber erzählte auch, hinzufügend, er selber glaube es nicht, Offiziere hätten noch gestern mit festester Überzeugung versichert, in 14 Tagen komme die Wende , sie gehe vom Obersalzberg aus u. geschehe durch die neue Waffe . Das ist nicht auszurotten, u. das findet immer noch Gläubige. Die Propaganda ist eben eine zu große u. wirklich eine Massensuggestive gewesen. Ich würde mich nicht wundern, wenn sich um * Hitler eine * Barbarossalegende bildete. Der Simplizissimus 4 brachte vor 1933 einmal eine schöne Karikatur, auf der Hitler-Barbarossa jämmerlich dünne Bartfäden durch den Stein wuchsen, während er auf seine Zeit wartete. Seine Zeit kam u. dauerte 12 Jahre; nun kann es ernst werden mit der Legende. – –
Vormittags schien das Wetter ein bißchen gebessert, über Tisch kam eine neue Schneeböe, u. wir sind mit noch immer nassen Kleider- u. Schuhzeug weiter gehandicapt.
Seit unserer Flucht aus Falkenstein ist heute gerade ein Monat verflossen, der wildeste u., vom 13/II selber abgesehen, der gefährlichste dieser Jahre. Nun ist die Gefahr vorüber – aber nun machen sich Ungemütlichkeit, guaio u. Ungeduld unserer Lage stündlich ärger bemerkbar.
Freitag 4. Mai 45. Unterbernbach. Haus 11 * Tyroller- * Gruber .
Morgens . Mit der Gruberin gab es gestern Zwist, der sich heute heftig fortsetzte u. wohl noch heute zum Wohnungswechsel führt. Die immer ungefällige u. ungleichmäßige Person hatte ohne vorherige Ankündigung durch Schweineschlachten – überall das Schwein! – den Herd besetzt u. untersagte E. das Kaffeekochen u. Abendbrodbereiten, obwohl das sich ohne Betriebsstörung hätte bewerkstelligen lassen. Wir mußten wieder zu * Flamensbeck unsere Zuflucht nehmen. Er sah sich nach neuem Quartier für uns um, gab uns ein reichliches Abendessen. Der junge * Asam sagt, er kenne die Gruber, denn seine Schwester habe bei ihr gedient, die Frau sei allzu hungrig (geizig), u. Flamensbeck nannte sie ein Jamertal. Heute früh nun machte die Gruber spießumdrehend mir eine Scene; von jetzt ab bekämen wir keine Brodsuppe mehr, nur die Milch, auch vom Geschlachteten würden wir nichts erhalten, denn Pfui hat s zu mir g sagt! Pfui ist offenbar schlimer als Da leckst mi .. Ich brüllte die Frau an, wir seien heute den letzten Tag hier, u. sie werde das Weitere vom * Pfarrer hören. Denn sehr fromm (mit Mittagsgebet, Kirchgang usw.) ist man auch hier. E. wird nun den Herrn Pfarrer aufsuchen u. auf die wiederholt gezeigte Unchristlichkeit der Gruber stoßen. Soweit ist das Komoedie – aber im Augenblick ist E. beim Kaffeekochen u. unsere Lage recht ungemütlich. Und ich habe Angst, vom Regen in die Traufe zu komen. Doch hielt E., die ja ständig mit der Gruberin zu tun u. zu kämpfen hat, unsere Situation schon längst für
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