Klemperer, Viktor
unserm Ofen gekocht werden soll, sie freute sich über die 15 M., die wir ihr gaben, u. wir schüttelten uns die Hände. (Dennoch wird ihr wohl der * Pfarrer den verdienten Text lesen.) .. Unser Auszug erregte Aufsehen im Dorf u. zeigte uns, wieviele Leute uns hier schon kannten u. mit uns sympathisierten: wir wurden wiederholt angerufen u. befragt. U. a. interpellierte uns dicht vor dem Heim eine junge Frau in reinem Berlinisch, ob wir denn schon abreisten. Ich sagte: wir täten es gern, aber soweit seien wir noch nicht. Darüber kamen wir ins Gespräch.
Die Frau, aus Berlin N., über Schlesien eine Woche vor uns hier gelandet, erzählte, sie habe von einem Feldwebel gehört, * Fritsche 2 als Gefangener der Russen habe im Radio mitgeteilt: * Hitler u. * Goebbels hätten sich erschossen, 3 die Russen seien den Berlinern beim Löschen der Brände behilflich, der Krieg sei völlig zuende. (Pfarrer Moll rechnete sogar damit, daß schon in 14 Tagen der Eisenbahnverkehr wieder im Gang u. so unsere Heimkehr möglich sein werde!) Aber Authentisches war nicht zu erfahren, seit Sonnabend d. 28. 4., also seit einer Woche sind wir stromlos u. damit abgeschnitten. Als Neuestes hatte der junge * Asam beim Abendbrod ein Nachrichten überschriebenes Zeitungsblatt vom 28/4., also auch eine Woche alt, mitgebracht, das eine amerikanische Armee in deutscher Sprache für ihren besetzten Gebietsstreifen herausgibt, u. das aus Aichach hierher gelangt war. Das Blatt berichtete von dem historischen Zusamentreffen der amerik. u. russischen Truppen in Torgau 4 – nun sei das Reich in zwei Teile zerrissen – von dem Händeschütteln zwischen amerikan. u. russischem Kommandanten. Diese Shakehands standen in schroffem Kontrast zu den Kriegshoffnungen Goebbelsschen Erbes, sie erinnerten freilich auch an das Händeschütteln deutscher u. russischer Offiziere 1939 in Polen. 5 Weiter war von der Erstürmung Bremens durch die Engländer die Rede, u. aus einer Kartenskizze war zu ersehen, daß Dresden von den Russen besetzt 6 worden, die Tschechei dagegen nur völlig eingekreist, aber ganz kriegsverschont geblieben ist. Aber wohlgemerkt: dies war der Stand der Dinge am 28. April. So sitzen wir hier im Dunkeln.
Die Frau aus Berlin wurde mir wichtiger als durch die weitergegebenen Gerüchte durch dieses: sie erzählte, ihr Bruder habe zehn Jahre im Kz gesessen u. sie selber acht Wochen, sie erzählte das stolz . Mit dem gleichen Stolz u. mit Erbitterung zugleich sagte * Frau St., die wir trafen – sie wollte zu Rad drei Stunden weit durch das Greuelwetter nach Neuburg, um Auskunft über ihren * Mann zu erhalten, nachdem ihre Fahrt nach Aichach ergebnislos geblieben –, sie rühmte sich also, wie oft ihr Mann, der am Geraden Weg Redacteur gewesen, unter * Gerlich , 7 dem schärfsten Gegner der Natsoc., den sie in Dachau totgeschlagen haben ( feststellen: wer ist Gerlich ?!), wie oft er, wie oft sie beide Juden geholfen, Leute aufgenomen, verborgen, befördert hatten, die ohne Papiere waren – – und nun soll er leiden, u. in Aichach laufen die ärgsten Nazis noch frei herum! Die Amerikaner sind bestimmt in vielen Fällen sehr falsch berichtet! Ich möchte in die gleiche Rubrik stellen, daß sich der * Wagnerwirt neulich seiner Hausknechtsprouesses 8 gegen die SA rühmte, u. das maßlose Schimpfen einer einfachen Frau, die bei ihm einquartiert ist, u. manche offene Bemerkung Bemerkung des jungen * Asam, u. manche versteckte des alten * Flamensbeck. Und ich selber: ich habe der Frau Steiner gesagt, vielleicht könnte ich ihr behilflich sein, mein Name sei angesehen, u. mich hätten die Nazis aus dem Amt gejagt. Und Ähnliches habe ich sogar dem Flmensbeck gesagt, u. er hat sich daraufhin meinen Namen sorglich notiert. – So komt jetzt alles triumphaliter ans Licht, was bis zum 28. 4. hier angstvollst verborgen wurde (beachte den Widerruf des Bauern * Tiroller, die Gerüchte seien falsch u.sei im Dorf), so will also auch niemand Nazi gewesen sein von denen, die es fraglos gewesen sind. – Wo ist die Wahrheit, wie läßt sie sich auch nur annähernd finden?
Und immer rätselhafter, trotz Versailles, Arbeitslosigkeit u. eingewurzeltem Antisemitismus, immer rätselhafter wird mir, wie sich die * Hitlerei durchsetzen konnte. Hier tut man jetzt manchmal so, z.B. bei Flamensbeck, als sei Hitlerei im Wesentlichen eine preußisch-militaristische-unkatholische-unbayrische Sache gewesen. Aber München war doch ihr Traditionsgau. Und wie hat diese Sache das
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