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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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unmöglich.
    Bei * * Flamenbecks, die leider, leider kein Zimmer haben, in dem wir wohnen könnten, sind wir nicht nur schlaraffen-beköstigt u. in gut geheizter Stube gewärmt – heute wieder ganz bereifter Boden! –, sondern dort ist es auch immer am interessantesten. Das Schild Ortsbauernführer ist verschwunden, dennoch finden sich immer wieder Leute ein, die Fl. beköstigt u. in seinem Stall über Nacht aufnimmt. Jeder bekomt eine Suppe oder ein Stück Fleisch oder Wurst, jeder schneidet sich nach seinem Belieben vom runden Brod herunter, das mit dem Messer auf dem Tisch liegt. Es ist (sagt * E.), als ob die Menschen seine Güte riechen. Und zwar geht alle Anordnung patriachalisch u. selbstverständlich vom Vater aus. Die Frau, deren Dialekt uns nach wie vor vollkomen unverständlich bleibt, schafft freundlich aber still heran, hält sich abseits, die * * Töchter warten auf den Vater. (Immer anwesend, immer den Schwiegervater lobend, manchmal ein wenig als sein Stellvertreter auftretend, dabei ständig um sein * Töchterchen zärtlich beschäftigt ist der junge * Asam.) Gestern Abend also wurden von Fl. s zwei waffenlose aber uniformierte Soldaten aufgenomen, mit denen wir uns lange unterhielten. Beide Anfang der zwanzig, seit mehreren Jahren beim Heer, der eine in kaufmännischer Stellung, der andere – älter, bebrillt, gesprächiger, der Führende, ich hielt ihn für einen Volksschullehrer – Stud jur im ersten Semester, danach aber, vor 5 Jahren, Soldat. Beide Sudetendeutsche , seit Dillingen von ihrer aufgelösten Truppe fort, bestrebt, über Ingolstadt, Regensburg die Heimat zu erreichen. Sie seien mehrmals an Amerikanern vorbeigekomen, zuletzt an etlichen, die auf einer Dräsine das Gleis entlang fuhren, bisher unbelästigt. Sie hätten gestern ein Radio gehört, alles, auch Berlin, habe kapituliert , 1 u. * Hitler sei tot. Der Student erklärte: Wer mir so etwas noch vor vier Wochen gesagt hätte, den hätt ich niedergeschossen – aber jetzt glaub ich nichts mehr ... Man habe zu viel gewollt, man habe übertrieben, man habe Grausamkeiten verübt, wie man in Polen u. Rußland mit den Menschen umgegangen sei, unmenschlich! Aber der Führer hat davon wohl nichts gewußt, der Führer sei schuldlos, man sage ja, * Himler habe regiert. (Immer noch der Glaube an Hitler, es ist fraglos ein religiöser Einfluß von ihm ausgegangen.) An die Wende u. an den nahen Krieg zwischen USA u. Rußland glaubten die beiden nicht mehr so recht, aber ein klein bißchen doch. Der noch immer kämpfendenwaren sie feindlich. Zum Schluß hauen die in Civil ab u. komen davon. Im Punkte Sudetendeutsch u. tschechisch waren sie ein wenig deutschparteilicher als neulich der slovakische Soldat im Zuge bei Regensburg, bestätigten aber im ganzen dessen Aussagen: vor dem Hochkomen der * Hähnleinpartei, 2 also der NSDAP, vor etwa 1937 sei die Spannung nicht so groß gewesen. Das Meiste habe die Propaganda getan. Man habe deutsche Schulen, habe die deutsche Universität Prag gehabt. Gewiß, Zusamenstöße u. Blutopfer seien vorgekomen, gewiß, * Benesch im Gegensatz zu * Masaryk 3 oder schärfer als Masaryk habe in Sudetendeutschland die tschechischen Schulen vermehrt, haben die Kinder aus schwankenden Familien durch Freiplätze in die tschechischen Schulen hinübergezogen, was dann zum Volkstod hätte führen können – aber immerhin: erst durch die Propaganda der Partei sei die Lage extrem geworden.
    Zu beachten scheint mir hierbei sub specie LTI der Ausdruck Volkstod . In ein Schlagwort drängt die LTI Wesentliches zusamen, dies eine Schlagwort haftet, es lebt u. wirkt weiter, wenn alles Darumliegende, wenn der Boden unter ihm schon fortgespült ist. Der Student aus Reichenberg war gewiß kein Nazi, kein Großdeutscher, kein Chauvinist mehr, er wußte auch, daß den Feindgreueln die deutschen Greuel vorangegangen waren – – aber das Wort, der Begriff, der Gefühlsinhalt, das Gift Volkstod war noch vorhanden u. noch ein klein wenig wirksam. – Ich hätte dem Jungen davon reden können, wie Hitler sich mit dem viel entschiedeneren Volkstod der Südtiroler 1 abfand, u. welchen Volkstod er den Wenden bereitete. Ich sprach aber nur von Altösterreichs historischem Fehler, daß es aus den Tschechen u. seinen anderen kolonisierten Völkern nicht beizeiten more britannico 2 Dominions gemacht habe.
    Ich lese mich in den vom * Pfarrer geliehenen Band ein: * Ernst Thrasolt, Dr. * Carl Sonnenschein, der Mensch u. sein Werk Kösel u.

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