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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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Pustet, München 1930. Erste Notiz .
    Sobald ich auf die Namen * Marc Sangnier 3 u. * Hermann Platz 4 stieß, war ich im Bilde. –
    Katholisches Gegenstück zum (erwähnten) Protestanten Naumann. –
    Wieder (u. stärker als 1916 5 ) packt mich die Erkenntnis eines völligen (literarischen etc. etc.) Sonderlebens der deutschen Katholiken, die doch ein riesiger Prozentsatz der Deutschen sind. Eigenes Denken, eigene Sitten, eigener Stil , eigene Zeitschriften, berühmte Leute etc. Ein Volk für sich, getrennter vom protestantischen Volk als Bayern von Friesen, als norddeutsche Juden von norddeutschen Ariern. Immer wieder: was ist ein Volk? Es zerfällt nach Ständen, nach Landschaften, nach Confessionen, nach Groß- u. Kleinstadt u. Dorf ... wo ist die Einheit? Läßt sich mit dem * Lamprecht schen Begriff Sozialpsychisch etwas anfangen? –
    Wie jede sprachliche Neuerung lange schon da ist, ehe sich sie aufwuchernd ihre eigentliche Bedeutung erlangt: Sonnenschein gründet 1908 in München-Gladbach das SSS , das Sekretariat sozialer Studentenarbeit. Danach komen SPD, USP, KPD ... dann erst NSDAP, SA,. Aber SSS war eine Seltenheit, Gruppe SPD etc. eine schon ziemlich verbreitete Erscheinung, u. erst die-Gruppe ein Charakteristikum, ein floraison, 6 eine parasitäre Wucherung der LTI. So stark war dieses Wuchern, daß gelegentlich schon Äusserungen der Partei selber dagegen Stellung nahmen. (Die Besonderheit des-Zeichens als Rune lasse ich hier beiseite, es geht jetzt nur um das amerikanische Abkürzen in knappster Form, wie BDM, KDF, DAF, RAD etc. etc. etc.)
     
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    Samstag 5. Mai 45 Unterbernbach. Amtshaus . Vorm .
     
    Das Amtshaus liegt, genau entgegengesetzt zu unserer vorigen Bleibe, ganz am Südende des Dorfes, durch das Oberfenster der südlichen Haustür sieht man den weißen Streifen der Straße nach Radersdorf zwischen Wiesenland eingeschnitten die Anhöhe hinauf ins Leere, ins unbegrenzte Unbestimmte laufen, entfernt zu Seiten der Wiesen- u. Ackerebene steht der Wald. Der Amtshof erinnert mich an die Edelweiße, die wir vor Jahren in Berlin in einer Weißbierdiele am Kurfürstendamtranken. Es ist die elegante, pastorale Nachbildung eines Bauernhauses, Erd- u. Giebeldachgeschoß in Stein, sehr weiß getüncht, die Türen u. Fensterläden in gutem Holz, gutgestrichen: alles funkelnd vor Sauberkeit, Neuheit, bestem Material. Ein kurzer Seitenflügel hat einen NSV-Kindergarten beherbergt, im Hauptbau war das Bureau der Mairie 7 untergebracht, dann war unten ein sehr hübsches Empfangs- oder Wohnzimmer, dazu ein Saal, in dem jetzt an 20 Betten, genauer Bettstellen mit Matratzen u. Keilkissen, stehen, die Keilkissen tragen den Stempel Waffen-, hier hat also zuletzt Wehrmacht gelegen, vordem mag da irgendwelche Parteischulung vor sich gegangen sein. Im Dachgeschoß sind drei nicht allzukleine Zimmer ausgebaut, der Rest ist Bodenraum. Das Fenster des Mittelzimmers, das einen Kochofen besitzt, u. das uns seit gestern u. heute gehört – di doman non c è certezza, 8 denn es droht amerikanische Einquartierung –, geht auf einen braunen tiefgefurchten Acker zwischen zwei Wiesenstücken, auf einige Dorfhäuser u. entferten Wald. Die Kirchturm-Giebelschnecke ist sichtbar, aber das Zifferblatt ihrer Uhr nicht zu entziffern. Auf dem Rasenplatz vor uns, zum kleinen Nachbarhaus gehörig, befindet sich ein Schöpfbrunnen; es fiel mir heute sehr schwer, den vollen Eimer an der langen Stange herauszuholen u. in mein Gefäß zu gießen, die Nachbarin mußte mich anlernen u. mir helfen. Mein Gefäß: einen Eimer aufzutreiben, war unmöglich, wir bekamen – das eine Stück fand ich hier, das andere gab * Flamensbeck – zwei von den ungeheuer schweren u. großen Milchkannen, die 20 l. fassen, die eine dient jetzt als Behälter des sauberen Wassers, die andere als Ausgußeimer. (Dahinein habe ich mir heute morgen, das erstemal in Unterbernbach, die Zähne geputzt, eine Wohltat, aber das Zahnfleisch blutete vor Entwöhnung.) Das Curioseste am Haus ist der Bodenraum neben unserm Zimmer; dahinein hat man bei der Räumung des Hauses alles gestellt u. geworfen, was nun nutzlos oder gefährlich geworden war; an den schrägen Wänden lehnen strohgeflochtene Liegestühle oder Bahren für Kinder, stehen Kisten mit zerrissenen Kinder-Haus- u. –Bastschuhen, auseinandergenomene Regale u. Garderobenteile; auf dem Boden liegen in Massen Formulare der Fett- u. Milchkarten, die nun außer Curs gesetzt sind, ein natsoc.

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